11.12.2019 | Kartellrecht
Der Anspruch soll auf horizontale Kooperationen beschränkt sein und nur dann bestehen, wenn ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse an einer solchen Entscheidung besteht, was bspw. bei dem Aufbau von digitalen Plattformen im Bereich der Industrie 4.0 oder außergewöhnlich hohem Investitionsvolumen und -aufwand der Fall sein kann.
Daneben soll das bisher nur aus der Praxis bekannte "Vorsitzendenschreiben" gesetzlich verankert werden, mit dem die Kartellbehörde informell mitteilen kann, dass sie im Rahmen ihres Aufgreifermessens von der vertieften Prüfung eines Sachverhalts absieht. Schließlich ist eine Ermächtigungsgrundlage geplant, mit der dem Bundeskartellamt die Möglichkeit zur Aufstellung von Verwaltungsgrundsätzen hinsichtlich der Ermessensausübung bei informellen und förmlichen Entscheidungen eingeräumt werden soll.
Hintergrund: Abschaffung des Anmeldesystems und Umstellung auf Selbsteinschätzung
Vor einigen Jahren war mit der VO (EG) Nr. 1/2003 und der 7. GWB-Novelle das bis dahin bestehende Anmeldesystem für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen durch das System der Legalausnahme und Selbsteinschätzung (auch als "Selbstveranlagung" bezeichnet) ersetzt worden. Seither müssen Unternehmen selbst prüfen bzw. anwaltlich prüfen lassen, ob bspw. eine beabsichtigte Kooperation mit Wettbewerbern kartellrechtskonform ist, und tragen das hiermit verbundene rechtliche Risiko.
Im Zuge des vorgenannten Systemwechsels wurde (lediglich) der § 32c GWB eingeführt, auf dessen Grundlage im Einzelfall die Möglichkeit besteht, eine förmliche kartellbehördliche Entscheidung zu erlangen: Hiernach kann eine Kartellbehörde, wenn nach den ihr vorliegenden Erkenntnissen die Voraussetzungen für ein Verbot nach § 1, 19 bis 21 oder § 29 GWB (oder Artikel 101 Abs. 1, 102 AEUV) nicht gegeben sind, entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden und sie vorbehaltlich neuer Erkenntnisse von ihren Befugnissen nach den §§ 32 und 32a GWB keinen Gebrauch machen wird ("Comfort Letter").
Ob die Kartellbehörde eine solche Entscheidung erlässt, liegt dabei in ihrem pflichtgemäßen Ermessen; ein unternehmensseitiger Anspruch hierauf besteht derzeit nicht. Die Entscheidung nach § 32c GWB bewirkt dabei (zwar) nur eine Selbstbindung der Kartellbehörde (hinsichtlich des in Rede stehenden Sachverhalts nicht tätig zu werden), m.a.W. sie entfaltet keine rechtliche Außenwirkung ggü. anderen Kartellbehörden und/oder Gerichten. Neben der behördlichen Selbstbindung hat eine solche Entscheidung allerdings auch eine faktische Außenwirkung dahingehend, dass sich andere Kartellbehörden und Gerichte in der Regel der Begründung einer solchen Entscheidung anschließen. Im Vergleich zu einer unternehmensseitigen Selbsteinschätzung resultiert aus einem kartellbehördlichen Comfort Letter somit insgesamt deutlich mehr Rechtssicherheit.
Anspruch auf Comfort Letter (nur) bei erheblichem rechtlichen und wirtschaftlichen Interesse
Die bisher in § 32c GWB enthaltene Regelung soll ausweislich des (noch nicht zwischen den einzelnen Ressorts abgestimmten) Referentenentwurfs (als neuer Absatz 1) erhalten bleiben. Neu eingeführt werden soll ein Anspruch von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen gegenüber dem Bundeskartellamt auf eine förmliche Entscheidung ("Comfort Letter"), wenn die Unternehmen im Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit Wettbewerbern ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse an einer solchen Entscheidung haben (§ 32c Abs. 4 S. 1 GWB-RefE).
Der Anspruch soll freilich nur unter bestimmten Voraussetzungen und eingeschränkt gelten: Das für den Anspruch erforderliche erhebliche rechtliche und wirtschaftliche Interesse könnte ausweislich des Referentenentwurfs etwa bei der Realisierung von Netzwerkeffekten, der Zusammenführung und gemeinsamen Nutzung von Daten oder dem Aufbau von Plattformen im Bereich der Industrie 4.0, bei komplexen neuen Rechtsfragen und außergewöhnlich hohem Investitionsvolumen und -aufwand anzunehmen sein. Dies spricht dagegen, dass bspw. eine "durchschnittliche" Einkaufsgemeinschaft zwischen Wettbewerbern Gegenstand einer solchen Entscheidung sein kann bzw. wird; diesbezüglich dürfte es bei dem System der Selbstveranlagung bleiben. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Anspruch ausdrücklich auf horizontale Kooperationen begrenzt bleiben soll; die Prüfung bspw. eines selektiven Vertriebssystems eines einzelnen Unternehmens soll somit nicht von dem Anspruch umfasst sein.
Das Bundeskartellamt soll ausweislich § 32c Abs. 4 S. 1 GWB-RefE innerhalb von sechs Monaten über einen Antrag entscheiden. Innerhalb dieser Frist soll das Amt entweder die beantragte förmliche Entscheidung treffen oder mitteilen, dass die Voraussetzungen des Anspruchs nicht vorliegen oder Bedenken gegen das Vorhaben bestehen, die nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeräumt werden können, um eine Entscheidung zu treffen. Ausweislich des Referentenentwurfs kann eine solche Mitteilung aber ggf. eine Grundlage für die weitere Begleitung des Vorhabens durch das Bundeskartellamt sein und dazu führen, dass es – ggf. auch nach Anpassungen – doch noch im Einvernehmen mit dem Bundeskartellamt umgesetzt werden kann.
Gesetzliche Verankerung des informellen Vorsitzendenschreibens
Darüber hinaus soll in § 32c Abs. 2 GWB-RefE die bisher nur in der Anwendungspraxis des Bundeskartellamtes bestehende Möglichkeit des informellen "Vorsitzendenschreibens" gesetzlich verankert werden. Hierbei kann die Kartellbehörde - unter Verzicht auf eine förmliche Entscheidung (s.o.) - informell mitteilen, dass sie im Rahmen ihres Aufgreifermessens von der vertieften Prüfung eines Sachverhalts absieht. Dadurch kann der im Falle einer förmlichen Entscheidung erhöhte Ermittlungsbedarf vermieden und der Vorgang schneller zum Abschluss gebracht werden.
Ausweislich des Referentenentwurfs hat das Bundeskartellamt hiervon in jüngerer Zeit verstärkt Gebrauch gemacht und eine Vielzahl von Kooperationsvorhaben, insbesondere aus dem Digitalbereich, mit einer informellen Einschätzung unterstützt. Die Vorhaben konnten dabei aus Sicht der Behörde ohne kartellrechtliche Bedenken umgesetzt werden, teilweise auch nach kleineren Anpassungen.
Einführung von Verwaltungsgrundsätzen über die Ermessensausübung bei informellen und förmlichen Entscheidungen
Schließlich ist beabsichtigt, eine Ermächtigungsgrundlage einzuführen, die dem Bundeskartellamt ermöglichen soll, die Festlegung allgemeiner Verwaltungsgrundsätze über die Ausübung des nach § 32c Abs. 1 (förmlicher Comfort Letter) und Abs. 2 (informelles Vorsitzendenschreiben) GWB-RefE bestehenden Ermessens festzulegen (vgl. § 32c Abs. 3 GWB-RefE). Darüber hinaus wird im Referentenentwurf darauf hingewiesen, dass in derartigen Verwaltungsgrundsätzen auch die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einer solchen Beratung enthalten sein und auch darstellt werden könnte, in welcher Form die Ergebnisse der Beratung durch das Bundeskartellamt bekannt gemacht werden können.
Es ist davon auszugehen, dass das BKartA im Falle der Umsetzung des Referentenentwurfs von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und entsprechende Verwaltungsgrundsätze festlegen wird. Auf dieser Grundlage wird es künftig möglich sein, vorab einzuschätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer förmlichen Entscheidung oder eines informellen Vorsitzendenschreibens sein wird.
Fazit
Das Bundeskartellamt war zwar auch nach der Umstellung auf das Prinzip der Selbstveranlagung zumindest in komplexen Fällen grundsätzlich bereit, den beteiligten Unternehmen eine informelle Abklärung zu ermöglichen. Durch die beabsichtigte Einführung eines Anspruchs auf ein Comfort Letter wird jedoch eindeutig mehr Rechtssicherheit für Unternehmen geschaffen, weshalb dies sehr zu begrüßen ist.
Spannend bleibt zum einen die Frage, wie das Bundeskartellamt in den Verwaltungsgrundsätzen das erhebliche rechtliche und wirtschaftliche Interesse definieren wird, welches Voraussetzung für den Anspruch sein soll. Zum anderen ist fraglich, welche Rechtsfolgen es haben wird, wenn ein Unternehmen – trotz Vorliegens der Voraussetzungen eines Anspruchs auf ein Comfort Letter – diesen nicht in Anspruch nimmt.
Wenngleich mit der Einführung des Anspruchs auf förmliche Entscheidung das bisherige System ein Stück weit durchbrochen wird, bleibt es auf Grund der beabsichtigten Einschränkungen ansonsten bei dem Prinzip der Selbsteinschätzung. Dies gilt auch dann, wenn das Bundeskartellamt künftig einen Antrag auf förmliche Entscheidung ablehnen sollte. An kartellrechtliche Selbsteinschätzungen werden im Übrigen seitens der Rechtsprechung hohe Anforderungen gestellt, um die Voraussetzungen der Legalausnahme zu erfüllen, weshalb (auch) diesbezüglich die Inanspruchnahme anwaltlicher Beratung dringend zu empfehlen ist.
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Im Visier: Amazon, Facebook und Google
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10. GWB-Novelle: Änderungen bei der Fusionskontrolle geplant
Im Rahmen der bevorstehenden 10. GWB-Novelle ist beabsichtigt, die Vorschriften im Bereich der Fusionskontrolle zu ändern. So soll u.a. die 2. Inlandsumsatzschwelle auf 10 Mio. Euro angehoben werden, was zu einer spürbaren Verringerung der Anzahl anzumeldender Transaktionen und damit zu einer Entlastung insbesondere mittelständischer Unternehmen führen wird.