Christoph Richter
Expertise
- Deutsches und Europäisches Kartellrecht
- Beihilfenrecht
- Vergaberecht
- Compliance
Reputation
- The Legal 500 Deutschland 2018: Empfohlener Anwalt ("schnelle Bearbeitungszeiten, hohe Sachkenntnis und kreative Vorschläge")
Ausbildung / beruflicher Werdegang
- Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn, Lausanne und Münster
- Referendariat im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf; u.a. Stationen im Bundeskartellamt in Bonn sowie im Brüsseler Büro einer deutschen Wirtschaftskanzlei
- 2012 Zulassung als Rechtsanwalt
- 2012–2015 Rechtsanwalt in einer internationalen Wirtschaftskanzlei (Düsseldorf und München)
- Seit 2015 Rechtsanwalt bei LUTZ | ABEL
Mitgliedschaften
The Legal 500 Deutschland 2018: Empfohlener Anwalt ("schnelle Bearbeitungszeiten, hohe Sachkenntnis und kreative Vorschläge").
Aktuelles
10. GWB-Novelle: Compliance lohnt sich (jetzt noch mehr)!
Bei der Zumessung von Kartellbußgeldern können ab sofort Compliance-Maßnahmen, die vor oder nach einem Kartellverstoß getroffen wurden, bußgeldmindernd berücksichtigt werden. Dies gilt sogar für „gescheiterte“ Compliance-Maßnahmen.Im Rahmen der Zumessung von Kartellbußgeldern können ab sofort Compliance-Maßnahmen bzw. Compliance-Management-Systeme bußgeldmindernd berücksichtigt werden. Dies gilt unabhängig davon, ob sie vor oder nach der Beteiligung an einem Kartellverstoß eingeführt wurden. Ausweislich der Gesetzesbegründung können sogar Compliance-Maßnahmen, die den Kartellverstoß im Ergebnis nicht verhindert haben, mit anderen Worten „gescheiterte“ Compliance-Maßnahmen, bußgeldmindernd berücksichtigt werden, sofern im Vorfeld alle objektiv erforderlichen Vorkehrungen ergriffen worden sind, um Kartellverstöße durch Mitarbeiter zu verhindern.
Inhalt der gesetzlichen Neuregelung
Im Rahmen der Bußgeldzumessung kommen ab sofort als abzuwägende Umstände in Betracht (§ 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 und 5 GWB):
- Vor der Zuwiderhandlung getroffene, angemessene und wirksame Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen (Nr. 4);
- das Bemühen des Unternehmens, die Zuwiderhandlung aufzudecken und den Schaden wiedergutzumachen sowie
- nach der Zuwiderhandlung getroffene Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen (Nr. 5).
Angemessenheit und Wirksamkeit von Compliance-Maßnahmen
Ausweislich der Gesetzesbegründung können Compliance-Maßnahmen als angemessen und wirksam berücksichtigt werden, wenn „der Inhaber eines Unternehmens alle objektiv erforderlichen Vorkehrungen ergriffen hat, um Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen durch Mitarbeiter wirksam zu verhindern. […] Dass es trotzdem zu einer Zuwiderhandlung gekommen ist, spricht nicht von vornherein gegen die Ernsthaftigkeit des Bemühens, kartellrechtliche Zuwiderhandlungen zu vermeiden.“ (vgl. BT-Drs. 19/25868 vom 13.01.2021). Folglich können (sogar) „gescheiterte“ Compliance-Maßnahmen bußgeldmindernd berücksichtigt werden.
Die Vorkehrungen sind nach der Gesetzesbegründung in der Regel angemessen und wirksam, wenn
- diese zur Aufdeckung und Anzeige der Zuwiderhandlung geführt haben und
- die Geschäftsleitung oder sonstige leitungsverantwortliche Mitarbeiter nicht selbst an dem Kartellverstoß beteiligt waren.
In Bezug auf die Angemessenheit und Wirksamkeit eines Compliance-Programms, welches im Vorfeld eines Kartellverstoßes eingeführt worden ist, weichen der Gesetzeswortlaut und die Gesetzesbegründung somit punktuell voneinander ab, weshalb der diesbezügliche Maßstab unklar bleibt. Während im Gesetzeswortlaut lediglich von „Vorkehrungen zur […] Aufdeckung“ eines Kartellverstoßes die Rede ist, wird in der Gesetzesbegründung (darüber hinaus) auf die „Anzeige“ des Kartellverstoßes abgestellt.
Diesbezüglich stellt sich zum einen die Frage, ob ein Compliance-Programm, welches im Vorfeld eines Kartellverstoßes eingeleitet worden ist, bereits dann bußgeldmindernd berücksichtigt wird, wenn es zur internen Aufdeckung (und Abstellung) eines Kartellverstoßes geführt hat, oder dies nur dann der Fall ist, wenn das (kartellbeteiligte) Unternehmen den Kartellverstoß (zusätzlich) mittels eines Kronzeugenantrags gegenüber der Kartellbehörde aufgedeckt hat. Umfasst also der Begriff „Aufdeckung“ (in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 GWB) nur die (unternehmens-)interne, oder zusätzlich auch die externe kartellbehördliche Aufdeckung infolge eines Kronzeugenantrags? Dies kann bspw. in Fällen relevant werden, in denen ein kartellbeteiligtes Unternehmen einen Kartellverstoß (zwar) im Rahmen eines Internal Audit aufdeckt und seine Beteiligung hieran abstellt, sich aber bewusst dafür entscheidet, diesen lediglich vorzubereiten und für den Fall einer Durchsuchung „in die Schublade zu legen“.
Zum anderen stellt sich die Frage, ob bzw. in welchem Umfang aus einem Kronzeugenantrag eine zusätzliche Bußgeldminderung resultiert, zumal ausweislich des (mit der 10. GWB-Novelle kodifizierten) Kronzeugenprogramms die Einreichung des Kronzeugenantrags bereits für sich genommen zu einer Ermäßigung bzw. im besten Fall einem Totalerlass des (ansonsten festzusetzenden) Kartellbußgeldes führt.
Der zu erfüllende Maßstab der Angemessenheit und Wirksamkeit von Vorfeld-Maßnahmen bleibt vor diesem Hintergrund durch die Rechtsprechung zu klären.
Kleine und mittelständische Unternehmen müssen nicht zwingend den „Goldstandard“ wählen
Die Einstufung von Compliance-Maßnahmen als „angemessen“ soll ausweislich der Gesetzesbegründung von folgenden Faktoren abhängen:
- Art, Größe und Organisation des Unternehmens,
- Risiko von Kartellverstößen vor dem Hintergrund des Unternehmensgegenstandes,
- Anzahl der Mitarbeiter und
- zu beachtende Vorschriften sowie Risiko der Verletzung dieser Vorschriften.
Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich in diesem Zusammenhang außerdem, dass insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen („KMU“) bei der Einführung bzw. Umsetzung von Compliance-Maßnahmen nicht zwingend den „Goldstandard“ wählen müssen, sofern die Maßnahmen „angemessen und wirksam“ sind und das Risiko eines Kartellverstoßes tendenziell gering ist. Es ist also nicht immer zwingend erforderlich, dass KMU ein kostspieliges IT-basiertes Compliance-Management-System zukaufen und/oder eine Compliance-Zertifizierung durchlaufen.
Für KMU können vielmehr auch „altbewährte“ Maßnahmen ausreichend sein; hierzu zählen etwa:
- Ernennung eines Compliance-Beauftragten (verantwortlich für das systematische und fortlaufende Screening und Monitoring kartellrechtlich relevanter Sachverhalte sowie die Koordination und Durchführung sämtlicher Maßnahmen)
- Erstellung von Leitlinien, Handlungsanweisungen und Checklisten („Dos & Don’ts“);
- Durchführung regelmäßiger (!) Schulungen;
- „Watchdog“-System: Genehmigungsprozesse, Berichts- und Dokumentationspflichten in Bezug auf die Teilnahme von Mitarbeitern an Branchentreffen und Messen sowie die Verbandsarbeit;
- Möglichkeit zur anonymen (internen) Meldung von Verstößen durch Mitarbeiter („Whistleblower-Hotline“).
Handlungsempfehlung
Unternehmen sollten die Neuregelung zum Anlass nehmen, Compliance-Maßnahmen zu ergreifen bzw. ein Compliance-Management-System einzuführen oder bestehende Maßnahmen zu überprüfen sowie falls erforderlich zu optimieren. In Ansehung der Gesetzesbegründung sollten die Maßnahmen passgenau auf den Unternehmensgegenstand und die Unternehmensstruktur abgestimmt werden.
Wenngleich KMU nicht zwingend den Compliance-Goldstandard wählen müssen, sollten auch diese - als Grundlage aller Compliance-Maßnahmen - eine Risikoanalyse durchführen, in deren Rahmen Marktstruktur und Marktkonzentration, Liefer- und Absatzbeziehungen, Einkaufs- und Vertriebskooperationen, Ausschreibungen, Vertragsgestaltung, Wettbewerberkontakte und Verbandsarbeit unter die Lupe genommen werden. Das Ziel einer solchen Analyse besteht im Wesentlichen in der Aufdeckung und Abstellung von Kartellverstößen sowie der Identifizierung gefährdeter Unternehmensbereiche.
Bei Verdachtsfällen sollte eine umfassende Auditierung durchgeführt werden, in deren Rahmen die vorgenannten Aspekte systematisch durchleuchtet werden. Diese sollte ein Amnestieprogramm für Mitarbeiter, Interviews mit Mitarbeitern und die systematische Auswertung des Daten- und Aktenbestandes umfassen. Bei größeren Unternehmen kann die Durchführung einer Risikoanalyse bzw. Auditierung im Hinblick auf die „Angemessenheit“ der Compliance-Maßnahmen sogar (grundsätzlich) erforderlich sein.
Quo vadis, Kartellverfolgung? Kronzeugen, Whistleblower & Algorithmen
Das Kronzeugenprogramm des Bundeskartellamtes wurde im Rahmen der 10. GWB-Novelle kodifiziert. Außerdem erprobt das Amt neue Ermittlungsansätze zur Aufdeckung von Kartellen und will das digitale Hinweisgebersystem für Whistleblower ausbauen.Das Bundeskartellamt hat kürzlich Geldbußen in Höhe von insgesamt rund 6 Mio. Euro gegen zwei Hersteller von Straßenkanalguss und deren Verantwortliche wegen Preis- und Rabattabsprachen sowie einer Absprache zur Aufteilung zweier Großaufträge verhängt (vgl. Pressemitteilung vom 14.01.2021). Dies wäre eigentlich keiner besonderen Erwähnung wert, zumal es Kartelle mit weitaus höheren Bußgeldern oder einer deutlich größeren Gruppe Geschädigter gibt. Das interessante an dieser Nachricht ist vielmehr der amtsseitige Hinweis, dass die Verstöße mithilfe des digitalen Hinweisgebersystems des Bundeskartellamtes, mithin durch den Hinweis eines Whistleblowers aufgedeckt worden sind.
Es handelt sich hierbei (zwar) nicht um den ersten Fall, der mit Hilfe dieses Instruments eingeleitet worden ist. Die Meldung passt jedoch insofern ins Bild, als dass die Zahl der Kronzeugenanträge kartellbeteiligter Unternehmen, mittels derer in den letzten Jahren der größte Teil der Kartellverstöße aufgedeckt worden ist, seit einiger Zeit rückläufig ist. Infolge der erleichterten Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen kartellgeschädigter Abnehmer sehen (kartellbeteiligte) Unternehmen zunehmend von der Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung ab. Kronzeugen können zwar im besten Fall ein kartellbehördliches Bußgeld vollständig vermeiden, sind aber nicht vor der Inanspruchnahme durch geschädigte Dritte geschützt.
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, versuchen sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundeskartellamt, bestehende Instrumente der Kartellverfolgung zu stärken und neue Ermittlungsansätze auszuprobieren.
Digitales Hinweisgebersystem für Whistleblower
Das Bundeskartellamt hatte bereits vor längerer Zeit ein digitales Hinweisgebersystem für Whistleblower eingeführt (über das auch der bereits erwähnte Kartellverstoß aufgedeckt worden ist). Die Möglichkeiten dieses Hinweisgebersystems sollen nunmehr ausweislich einer kürzlich veröffentlichten Pressemitteilung des Amtes „ausgebaut“ werden. Es ist bislang allerdings noch offen, wie dieser Ausbau konkret aussehen soll.
Screening von Märkten mittels Algorithmen
Darüber hinaus erprobt das Bundeskartellamt derzeit neue Ermittlungsansätze wie etwa das Screening von Märkten. In diesem Zusammenhang ist künftig mit dem Einsatz von Algorithmen zu rechnen, welche die Preisentwicklung und weitere kartellrechtlich relevante Faktoren, wie etwa die Marktkonzentration, automatisiert überwachen und Alarm schlagen, wenn eine ungewöhnliche Abweichung auftritt.
Infolgedessen kommt die Einleitung einer sog. Sektorenuntersuchung (§ 32e GWB) in Betracht, in deren Rahmen das Bundeskartellamt einen bestimmten Wirtschaftszweig gezielt unter die Lupe nimmt. Hierbei kann das Kartellamt von den in diesem Sektor tätigen Unternehmen Auskünfte und die Herausgabe von Unterlagen verlangen (vgl. §§ 32e Abs. 2, 59 GWB).
Kronzeugenprogramm
Die Reaktion des Gesetzgebers auf die rückläufige Zahl von Kronzeugenanträgen besteht in der gesetzlichen Verankerung und Konkretisierung des Kronzeugenprogramms (§§ 81h bis 81n GWB) im Rahmen der am 19.01.2021 in Kraft getretenen 10. GWB-Novelle.
Auf der Grundlage des Kronzeugenprogramms kann ein (eigentlich zu verhängendes) Kartellbußgeld vollständig erlassen oder zumindest erheblich reduziert werden, wenn ein kartellbeteiligtes Unternehmen als Kronzeuge freiwillig bei der Aufdeckung eines Kartellrechtsverstoßes mit der Kartellbehörde kooperiert hat.
Dies war bisher lediglich auf der Grundlage einer Verwaltungsrichtlinie des Bundeskartellamtes, der sog. Bonusregelung möglich (vgl. Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen vom 7. März 2006). Durch die Kodifizierung des Kronzeugenprogramms soll mehr Rechtssicherheit geschaffen und, damit einhergehend, das Vertrauen in die Inanspruchnahme des Kronzeugenprogramms (wieder) gestärkt werden.
Fazit
In Ansehung der Stärkung bzw. Einführung alternativer Ermittlungsansätze sollten sich kartellbeteiligte Unternehmen nicht in der trügerischen Sicherheit wiegen, dass aus der derzeit rückläufigen Zahl von Kronzeugenanträgen mittel- bis langfristig ein Nachlassen der behördlichen Kartellverfolgung resultiert. Vielmehr ist auch künftig mit der Aufdeckung einer eigenen Kartellbeteiligung zu rechnen.
Vor diesem Hintergrund sollte die Möglichkeit eines Kronzeugenantrags weiterhin in Betracht gezogen werden. Die Abwägung über die Einreichung eines Kronzeugenantrags muss dabei stets anhand des Einzelfalls unter Berücksichtigung sämtlicher Vor- und Nachteile erfolgen; eine pauschale Betrachtung ist hier nicht empfehlenswert.
Zu den Nachteilen zählt in erster Linie unzweifelhaft das Schadenersatzrisiko, zumal die Schadenersatzforderungen (je nach Sachlage) in Summe höher als das kartellbehördliche Bußgeld ausfallen können. Daneben sind langjährige gerichtliche Verfahren, ein Reputationsschaden und die Belastung bestehender Geschäftsbeziehungen zu berücksichtigen.
Der wesentliche Vorteil eines Kronzeugenantrags besteht darin, dass das behördliche Kartellbußgeld, welches bis zu 10% des weltweiten Konzernumsatzes betragen darf, im besten Fall vollständig vermieden bzw. zumindest erheblich reduziert werden kann. In der Gesamtbetrachtung entsteht dem Kronzeugen somit ein deutlich geringerer finanzieller Schaden, als wenn er das Kartellbußgeld und Kartellschadenersatz leisten muss. Außerdem behält der Kronzeuge hinsichtlich der Verfahrenseinleitung das Heft des Handelns in der Hand.
Im Rahmen der Abwägung sind hinsichtlich des Schadenersatzrisikos verschiedene Faktoren einzubeziehen, etwa welcher sachliche und räumliche Markt von dem Kartell betroffen ist, der Tatzeitraum und der betroffene Kundenkreis. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nicht aus jedem Kartellverstoß zwangsläufig ein (nachweisbarer) Schaden resultiert. Dies kommt insbesondere im Falle eines Informationsaustauschs „unterhalb“ von Hardcore-Verstößen (hierzu zählen bspw. Preisabsprachen, Gebiets- oder Kundenaufteilungen) in Betracht.
Dies vorausgeschickt, finden Sie nachfolgend eine Zusammenfassung der wesentlichen Rahmenbedingungen des mit der 10. GWB-Novelle kodifizierten Kronzeugenprogramms:
2. Allgemeine Voraussetzungen für die Behandlung als Kronzeuge
3. Vollständiger Erlass der Geldbuße nur auf Rang 1 möglich
4. Reduzierung der Geldbuße setzt „Mehrwert“ voraus
7. Einreichung auf Deutsch und Englisch sowie in anderen EU-Amtssprachen möglich
Das Kronzeugenprogramm gilt (wie auch bisher) nur für horizontale Wettbewerbsbeschränkungen (vgl. § 81h GWB). Allerdings kann das Bundeskartellamt ausweislich der Gesetzesbegründung im Rahmen der Bußgeldzumessung sowie in Ausnahmefällen im Rahmen des Ermessens auch in anderen Fallkonstellationen, etwa bei vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen, die freiwillige Zusammenarbeit eines Unternehmens mit dem Bundeskartellamt entsprechend berücksichtigen.
Zum Kreis derjenigen, die das Kronzeugenprogramm in Anspruch nehmen können, zählen neben Unternehmen und Unternehmensvereinigungen auch natürliche Personen (§ 81h Abs. 1 GWB). Ein Antrag auf Kronzeugenbehandlung, der für ein Unternehmen abgegeben wird, gilt, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes erklärt wird, für alle juristischen Personen oder Personenvereinigungen, die im Zeitpunkt der Antragstellung das Unternehmen als wirtschaftliche Einheit bilden. Er gilt auch für deren derzeitige sowie frühere Mitglieder von Aufsichts- und Leitungsorganen und Mitarbeiter, d.h. Unternehmensangehörige sind grundsätzlich vom Schutzbereich eines Kronzeugenantrags erfasst (§81i Abs. 2 GWB).
Das Kronzeugenprogramm gilt indes ausschließlich für kartellbehördliche, nicht jedoch für gerichtliche Verfahren. Es bietet auch (weiterhin) keinen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung, falls es sich bei dem wettbewerbsbeschränkenden Verhalten um eine Absprache in Bezug auf Ausschreibungen („Submissionsabsprache“) i. S. d. § 298 StGB handelt.
Allgemeine Voraussetzungen für die Behandlung als Kronzeuge
Um mit Hilfe des Kronzeugenprogramms einen Erlass oder zumindest eine Reduzierung des Kartellbußgeldes erreichen zu können, muss ein Antragsteller mindestens die nachfolgend genannten Voraussetzungen erfüllen (vgl. § 81j Abs. 1 GWB):
- Offenlegung der Kenntnisse von dem Kartell einschließlich der eigenen Beteiligung hieran;
- Beendigung eigenen Kartellbeteiligung (sofern das BKartA dem Unternehmen nicht zum Schutz der Untersuchung auferlegt, weiter an dem Kartell mitzuwirken);
- Umfassende Kooperation mit dem BKartA ab dem Zeitpunkt der Antragstellung (u.a. Vorlage sämtlicher Informationen und Beweismittel, Beantwortung von Fragen, Verschwiegenheitspflicht);
- Keine Vernichtung, Verfälschung oder Unterdrückung von Beweismitteln.
In dem Zeitraum vor Antragstellung, in dem ein Unternehmen die Stellung eines Kronzeugenantrags erwogen hat, dürfen (ebenfalls) keine Informationen oder Beweise vernichtet, verfälscht und/oder unterdrückt und weder die Absicht der Stellung des Kronzeugenantrags, noch dessen vorgesehener Inhalt offengelegt worden sein.
Vollständiger Erlass der Geldbuße nur auf Rang 1 möglich
Erfüllt ein Antragsteller die vorstehend genannten Voraussetzungen, wird die Kartellbehörde von der Verhängung eines Bußgeldes vollständig absehen, wenn das Unternehmen als erstes Beweismittel vorlegt, die die Kartellbehörde (zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Antrag erhält) erstmals in die Lage versetzen, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken (vgl. § 81k Abs. 1 GWB).
Ein Totalerlass kommt auch dann in Betracht, wenn die Kartellbehörde bereits in der Lage ist, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken, sofern (i) der Antragsteller in diesem Fall als erster Beweismittel vorlegt, die erstmals den Nachweis der Tat ermöglichen und (ii) kein Kartellbeteiligter bereits die Voraussetzungen für einen Totalerlass nach § 81k Abs. 1 GWB erfüllt hat (vgl. § 81k Abs. 2 GWB).
Während ausweislich Rn. 3 und 4 der (alten) Bonusregelung ein Totalerlass des Bußgeldes nicht in Betracht kam, wenn der Antragsteller alleiniger Anführer des Kartells war oder andere zur Teilnahme an dem Kartell gezwungen hat, liegt künftig ein Ausschlussgrund nur noch bei Zwang vor (vgl. § 81k Abs. 3 GWB).
Reduzierung der Geldbuße setzt „Mehrwert“ voraus
Ein Unternehmen, dass mit seinem Kronzeugenantrag nicht Rang 1 belegt, kann eine erhebliche Reduzierung des Kartellbußgeldes erreichen, sofern (i) die allgemeinen Voraussetzungen (s.o.) erfüllt werden und (ii) das Unternehmen Beweismittel für das Kartell vorlegt, die im Hinblick auf den Nachweis der Tat gegenüber den Informationen und Beweismitteln, die der Kartellbehörde bereits vorliegen, einen erheblichen „Mehrwert“ aufweisen (vgl. § 81l Abs. 1 GWB). Ein solcher Mehrwert kann darin liegen, dass die Informationen und Beweismittel bestehende Zusammenhänge verdeutlichen oder den Nachweis bereits bekannter Tatsachen bestärken.
Im Gegensatz zur bisherigen Bonusregelung enthält das Kronzeugenprogramm keine prozentualen Angaben zum möglichen Umfang einer Reduzierung. Der Umfang der Ermäßigung richtet sich nach dem Nutzen der Beweismittel sowie nach dem Zeitpunkt der Anträge auf Kronzeugenbehandlung (§ 81l Abs. 2 GWB).
Erstmals gesetzlich verankert wird eine partielle Immunität für den Fall, dass ein Unternehmen als erster Antragsteller stichhaltige Beweise übermittelt, die die Kartellbehörde zur Feststellung zusätzlicher Tatsachen heranzieht und zur Festsetzung höherer Geldbußen gegenüber anderen Kartellbeteiligten verwendet; in diesem Fall werden diese Tatsachen bei der Festsetzung der Geldbuße gegen den Antragsteller, der diese Beweise vorgelegt oder im Falle eines Antrags zu seinen Gunsten umfassend daran mitgewirkt hat, nicht erschwerend bei der Bußgeldzumessung berücksichtigt (§ 81l Abs. 3 GWB).
Um sich einen Rang (in der Reihenfolge des Eingangs der Anträge auf Kronzeugenbehandlung) zu sichern, muss nicht zwingend unmittelbar ein vollständiger Kronzeugenantrag eingereicht werden. Vielmehr kann hierzu zunächst ein „Marker“ gesetzt, d.h. die Bereitschaft des Unternehmens zur Zusammenarbeit mit dem BKartA erklärt werden (§ 81m GWB). Das BKartA wird in diesem Fall eine Frist setzen, innerhalb derer durch das Unternehmen sodann ein vollständiger Kronzeugenantrag einzureichen ist. Für den Rang des vollständigen Antrags ist dann der Zeitpunkt des Markers maßgeblich, sofern der Antragsteller alle ihm obliegenden Pflichten fortwährend erfüllt.
Einreichung auf Deutsch und Englisch sowie in anderen EU-Amtssprachen möglich
Kronzeugenanträge können im Übrigen nicht nur in deutscher, sondern alternativ auch in englischer Sprache eingereicht werden. In Absprache mit der Kartellbehörde kann der Antrag sogar in einer anderen Sprache der EU gestellt werden. Die Kartellbehörde kann allerdings die unverzügliche Vorlage einer deutschen Übersetzung anfordern (vgl. §81i Abs. 3 GWB).
Verschärfung der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht über Digitalkonzerne
Die 10. GWB-Novelle ist am 19.01.2021 in Kraft getreten. Ein wesentliches Ziel besteht darin, marktmächtige Digitalkonzerne künftig frühzeitiger und „schärfer“ kontrollieren zu können.Im Rahmen der am 19. Januar 2021 in Kraft getretenen 10. GWB-Novelle (auch als „GWB-Digitalisierungsgesetz“ bezeichnet) wurden weitreichende Änderungen der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht vorgenommen. Diese zielen darauf ab, den Missbrauch von Marktmacht insbesondere durch große digitale Plattformen mit Gatekeeper-Funktion wie Amazon, Facebook und Google besser und frühzeitiger erfassen und verhindern zu können.
Das Bundeskartellamt hat von einer der neu geschaffenen Möglichkeiten unmittelbar Gebrauch gemacht und ein bereits im Dezember 2020 eingeleitetes Missbrauchsverfahren gegen Facebook ausgeweitet: Es prüft nun zusätzlich, ob Facebook unter die besondere Missbrauchsaufsicht über Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb (§ 19a GWB) fällt (vgl. Bundeskartellamt, Pressemitteilung vom 28.01.2021).
Zu den wesentlichen Änderungen im Bereich der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht gehören:
- Besondere Missbrauchsaufsicht über „Super-Marktbeherrscher“
- Verhinderung des Kippens von Märkten („Tipping“)
- Erweiterung der „essential facilities doctrine“ auf Verweigerung des Datenzugangs
- Anspruch auf Zugang zu wettbewerblich relevanten Daten
- Erfassung der Marktmacht digitaler Plattformen bei der Vermittlung des Marktzugangs für Dritte
- Auch große Unternehmen können von relativ marktmächtigen Unternehmen abhängig sein
Besondere Missbrauchsaufsicht über „Super-Marktbeherrscher“
Das Kernstück der Neuerungen im Bereich der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht besteht in der Einführung einer Ermächtigungsgrundlage (§ 19a GWB), die dem Bundeskartellamt im Rahmen einer besonderen Missbrauchsaufsicht eine effektivere Kontrolle derjenigen großen Digitalkonzerne ermöglicht, denen eine „überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb“ zukommt.
Die Ermächtigungsgrundlage zielt auf Unternehmen ab, die nicht nur (bereits) eine beherrschende Stellung auf einzelnen Plattform- oder Netzwerkmärkten innehaben, sondern die aufgrund ihrer Zugangsmöglichkeit zu Daten, infolge von Netzwerkeffekten, in Ansehung ihrer Ressourcen und der strategischen Positionierung auch erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter auf anderen Märkten nehmen können bzw. die eigene Geschäftstätigkeit in immer neue Märkte und Sektoren ausweiten, m. a. W. insbesondere auf marktmächtige digitale Plattformen wie Amazon, Facebook und Google.
Die Regelung ist dabei so ausgestaltet, dass ein missbräuchliches Verhalten nur verboten werden kann, wenn das Bundeskartellamt auf der Grundlage der in § 19a Abs. 1 GWB genannten Voraussetzungen die überragende marktübergreifende Bedeutung des betroffenen Unternehmens in einer förmlichen Verfügung ausdrücklich feststellt.
Sofern diese Feststellung erfolgt, kann das Bundeskartellamt gemäß § 19a Abs. 2 GWB die folgenden Verhaltensweisen verbieten:
- Selbstbevorzugung der eigenen Produkte oder Angebote im Vergleich zu Wettbewerbern (Nr. 1);
- Ausnutzung der Gatekeeper-Funktion, bspw. Behinderung von Drittanbietern bzgl. der Werbung für ihre Angebote oder Verhinderung des Zugangs zu den Angeboten des Drittanbieters über alternative Zugänge (Nr. 2);
- „Aufrollen“ noch nicht beherrschter Märkte mittels Kampfpreisstrategien, Exklusivitätsvereinbarungen oder Bündelangeboten (Nr. 3);
- Behinderungspraktiken im Zusammenhang mit der Nutzung von wettbewerbsrelevanten Daten: Hiervon sind Konstellationen erfasst, in denen auf einem beherrschten Markt Daten gesammelt und/oder vorhandene Daten aus unterschiedlichen Quellen miteinander verknüpft werden, die dann auf einem anderen, noch nicht beherrschten Markt zur unbilligen Behinderung von Wettbewerbern genutzt werden (Nr. 4);
- Behinderung der Interoperabilität von Produkten und Leistungen oder der Portabilität von Daten etwa bei einem Anbieterwechsel (Nr. 5);
- Zurückhaltung von Daten (bspw. Nutzungsdaten, anfallende Kosten, Klickverhalten oder Rankingkriterien), sofern hieraus wettbewerblich relevante Informationsdefizite resultieren (Nr. 6);
- „Anzapfverbot“: Unangemessene Gegenleistungen für die (bessere) Behandlung und Darstellung von Angeboten eines Drittunternehmens, bspw. Forderung der Übertragung von Daten oder Rechten, die für die Darstellung der Angebote nicht zwingend erforderlich sind (Nr. 7).
Das Bundeskartellamt kann die vorgenannten Verhaltensweisen im Einzelfall allerdings nicht verbieten, soweit diese sachlich gerechtfertigt sind. Die einzelnen Missbrauchstatbestände sind dabei als widerlegliche Vermutung ausgestaltet, d.h. die Darlegungs- und Beweislast für die sachliche Rechtfertigung obliegt den Normadressaten. Folglich muss das Bundeskartellamt (im Unterschied zu §§ 19 und 20 GWB) die Verwirklichung eines Missbrauchstatbestandes nicht aktiv ermitteln und darlegen.
Es ist davon auszugehen, dass die Feststellung einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb nur für wenige Unternehmen wie Amazon, Facebook oder Google in Betracht kommt und § 19a GWB daher einen eng begrenzten Adressatenkreis haben wird.
Verhinderung des Kippens von Märkten („Tipping“)
Des Weiteren wurde mit § 20 Abs. 3a GWB ein neuer Eingriffstatbestand zur Verringerung der wettbewerblichen Probleme durch das Kippen („Tipping“) bestimmter Märkte eingeführt. Hierunter versteht man die Umwandlung eines durch starke positive Netzwerkeffekte geprägten Marktes mit mehreren Anbietern zu einem monopolistischen bzw. hochkonzentrierten Markt.
Sofern ein „Tipping“ nicht aus einem (kartellrechtlich nicht zu beanstandenden) Leistungswettbewerb resultiert, sondern Folge von gezielten Behinderungsstrategien einzelner Unternehmen ist, kann dies künftig mit den Mitteln der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht frühzeitig verhindert werden, zumal ein einmal erfolgtes Tipping praktisch nicht rückgängig zu machen ist. Ein diesbezügliches Eingreifen des Kartellamts ist bereits möglich, wenn ein betroffenes Unternehmen noch nicht die Schwelle zur Marktmacht überschritten hat.
Der Anwendungsbereich des Sondertatbestandes ist beschränkt; er erfasst nur mehrseitige Märkte und Netzwerke im Sinne von § 18 Abs. 3a GWB (etwa den Markt für soziale Medien) und stellt auf positive Netzwerkeffekte (bzw. deren Behinderung) ab. Erfasste Verhaltensweisen sind insbesondere das Verbot oder die Behinderung der parallelen Nutzung mehrerer Plattformen („Multi-Homing“) und die Erschwerung von Plattformwechseln.
Erweiterung der „essential facilities doctrine“ auf Verweigerung des Datenzugangs
Ferner wurde die „essential facilities doctrine“ erweitert. Während bisher die missbräuchliche Zugangsverweigerung insbesondere zu physischer Infrastruktur (bspw. Häfen) erfasst war, kann künftig auch eine Verweigerung des Zugangs zu Daten, Plattformen und Schnittstellen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstellen (§ 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB).
Anwendungsfälle könnten etwa darin bestehen, dass ein (Dritt-)Anbieter (der noch keine Vertragsbeziehung zu einem Plattformbetreiber hat) Zugang zu individualisierten oder aggregierten Nutzer- bzw. Nutzungsdaten benötigt, um ein innovatives komplementäres Angebot auf die Bedürfnisse der Nutzer anpassen oder Nutzerbedürfnisse besser vorhersagen zu können.
Für die Zugangsgewährung darf das marktmächtige Unternehmen ausweislich § 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB (weiterhin) ein „angemessenes Entgelt“ fordern.
Zu berücksichtigen ist im Übrigen, dass das marktbeherrschende Unternehmen den Zugang mit einer sachlichen Rechtfertigung abwehren kann.
Anspruch auf Zugang zu wettbewerblich relevanten Daten
Überdies wurde mit § 20 Abs. 1a GWB ein begrenzter Anspruch auf Datenzugang neu eingeführt, der bestimmte Konstellationen erfasst, in denen im Rahmen eines bestehenden Vertragsverhältnisses dem Zugang zu Daten aus wettbewerblicher Sicht eine besondere Bedeutung zukommt.
Erfasst werden sollen insbesondere Vertragsverhältnisse innerhalb von Wertschöpfungsnetzwerken, d.h. in komplexen Multi-Stakeholder-Konstellationen in Aftermarket- und Internet-of-Things-Kontexten, in denen oftmals vielfältige Leistungen von unterschiedlichen Anbietern angeboten werden. Sofern hierbei von den beteiligten Unternehmen gemeinsame Wertschöpfungsbeiträge erbracht werden, sollen auch die entstehenden Daten gemeinsam unter Berücksichtigung der jeweiligen Beiträge genutzt werden können. Die Neuregelung zielt dabei auf Fälle ab, in denen die Markt- und Verhandlungsmacht zwischen den beteiligten Unternehmen ungleich verteilt ist und das marktmächtigere Unternehmen innerhalb des Wertschöpfungsnetzwerks seinem Vertragspartner kein (vertragliches) Zugangsrecht einräumt.
Der Zugangsanspruch soll insbesondere begrenzt sein auf die beim Vertragspartner vorliegenden und diesem ebenfalls zur Verfügung stehenden Daten, weil nur dann unter Billigkeitsgesichtspunkten ein Anspruch auf Zugang gerechtfertigt erscheint. Der Anspruch schließt dabei aber auch solche Daten ein, die erst zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen oder von personenbezogenen Daten bereinigt werden müssen. Grundsätzlich nicht erfasst werden sollen hingegen Konstellationen, in denen die Erhebung von noch nicht vorliegenden Daten verlangt wird.
Konstellationen, in denen unabhängig von einem geleisteten Wertschöpfungsbeitrag und ohne ein bestehendes Vertragsverhältnis der Zugang zu Daten begehrt wird, werden hingegen von § 20 Abs. 1a GWB tendenziell nicht erfasst sein; in diesen Fällen kommt aber ggf. ein Zugangsanspruch gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB, also auf der Grundlage der „essential facilities doctrine“ (siehe oben) in Betracht.
Erfassung der Marktmacht digitaler Plattformen bei der Vermittlung des Marktzugangs für Dritte
Des Weiteren wurde hinsichtlich der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens eine neue Regelung eingefügt, um die deutlich gestiegene Bedeutung digitaler Plattformen in ihrer Funktion als Vermittler (“Intermediäre”) für Dritte bei der Herstellung des Zugangs zu Beschaffungs- und Absatzmärkten („Intermediationsmacht“) besser erfassen zu können (§ 18 Abs. 3b GWB).
Da das Geschäftsmodell der Plattformbetreiber auf die Sammlung, Aggregation und Auswertung von Daten zur Vermittlung von Angebot und Nachfrage ausgerichtet ist, sind die (Dritt-)Anbieter auf diesen Plattformen auf ein möglichst vorteilhaftes “Listing” bzw. “Ranking” angewiesen. Hierauf könn(t)en Plattformbetreiber Einfluss nehmen und im Extremfall sogar die vollständige Kontrolle über den Marktzugang von (Dritt-)Anbietern gewinnen. Die Erfassung der hieraus resultierenden – missbrauchsanfälligen – Machtposition der Plattformbetreiber war (zwar) bereits nach dem derzeit geltenden Recht möglich, wird nunmehr aber ausdrücklich gesetzlich geregelt.
Auch große Unternehmen können von relativ marktmächtigen Unternehmen abhängig sein
Darüber hinaus wird der Schutzbereich des § 20 Abs. 1 GWB auf große Unternehmen ausgeweitet, zumal nicht nur kleine und mittlere Unternehmen (“KMU”), sondern auch große Unternehmen von relativ marktmächtigen Unternehmen abhängig sein können (vgl. § 20 Abs. 1 GWB).
Die Abhängigkeit eines großen Unternehmens von einem relativ marktmächtigen Unternehmen ist etwa dann denkbar, wenn das große Unternehmen auf den Zugang zu Daten auf der digitalen Plattform eines relativ marktmächtigen Unternehmens angewiesen ist. Die Erweiterung des Schutzbereichs des § 20 Abs. 1 GWB gilt dabei für alle Wirtschaftsbereiche und nicht nur für die digitale Wirtschaft.
Die Neuregelung soll allerdings nur dann greifen, wenn zwischen den Vertragspartnern eine „deutliche Asymmetrie“ vorliegt, d.h. wenn das abhängige Unternehmen im Hinblick auf das konkrete Vertragsverhältnis nicht mit einer entsprechenden Gegenmacht ausgestattet ist. Eine deutliche Asymmetrie kommt insbesondere in Betracht, wenn die Beendigung einer Vertragsbeziehung für die Vertragspartner sehr unterschiedliche Folgen hätte, zum Beispiel im Hinblick auf die relative Bedeutung der wegfallenden Umsätze zu den Gesamtumsätzen. Dies kann bspw. bei einer Zulieferbeziehung im Bereich Automotive der Fall sein, wenn die Vertragspartner eine hochspezialisierte Leistung vereinbaren und hiermit nicht ohne Weiteres auf andere Anbieter oder Nachfrager ausweichen können, etwa weil das Vertragsprodukt zunächst (zeit-)aufwendig zertifiziert werden muss. Die Beendigung dieses Vertragsverhältnisses kann für den Zulieferer umsatztechnisch gravierender ausfallen als für den Automobilhersteller.
Fazit
Die Neuerungen im Bereich der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht erweitern zum einen den Besteckkasten des Bundeskartellamts in Bezug auf die Digitalwirtschaft erheblich. Es kann damit gerechnet werden, dass das Bundeskartellamt recht zügig feststellen wird, dass Amazon, Google und Facebook Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb sind und damit der besonderen Missbrauchsaufsicht i. S. d. § 19a GWB unterworfen werden. Im Fall Facebook / Oculus hat das Amt diese Prüfung nur wenige Tage nach dem Inkrafttreten der 10. GWB-Novelle eingeleitet.
Zum anderen wurden insbesondere für (Dritt-)Anbieter auf digitalen Plattformen - man denke nur an die bei Amazon vertretenen Hersteller und Händler – neue Möglichkeiten geschaffen, sich gegen missbräuchliches Verhalten der „Super-Marktbeherrscher“ zur Wehr zu setzen, weshalb die Neuregelungen eine erhebliche praktische Bedeutung entwickeln werden. So dürfte bspw. der Anspruch auf Datenzugang für viele Drittanbieter (auf digitalen Plattformen) von besonderem Interesse sein, zumal die bei den Plattformbetreibern vorhandenen und miteinander verknüpften Datensammlungen oftmals den entscheidenden wettbewerblichen Unterschied ausmachen.