Vergaberechtlicher Leitfaden in Corona-Zeiten

Dr. Wolfgang Schindler

Dr. Wolfgang Schindler

Die Corona Pandemie beeinflusst auch das Vergaberecht. Wir möchten Sie beim Bewältigen der Krise unterstützen und bieten mit nachfolgendem Beitrag Orientierungshilfe.

Vergaberechtlicher Leitfaden in Corona-Zeiten
Vergaberechtlicher Leitfaden in Corona-Zeiten

18.09.2020 | Vergaberecht

Das Coronavirus (SARS-Cov-2 / COVID-19) ist zurzeit in aller Munde. Die vielerorts exponentiell steigende Infektionskurve stellt nicht nur das Privatleben auf den Kopf. Auch die Wirtschaft bekommt zunehmend die Auswirkungen der Pandemie zu spüren. Der Staat trägt dafür Sorge, dass das Wirtschaftsleben – vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge – handlungsfähig bleibt. Gleichwohl obliegt ihm die Pflicht, durch Vorgaben mit Augenmaß die Infektionszahlen zu verringern. Deshalb besteht die oberste Prämisse derzeit darin, einen Kollaps des deutschen Krankensystems zu verhindern. Andererseits kämen noch rigorosere Präventivmaßnahmen dem Ruin zahlreicher Unternehmen gleich.

Damit aber ein solcher Spagat der Interessen gelingt, müssen kurzfristige Beschaffungen möglich sein. Öffentliche Auftraggeber müssen ihren Bedarf rechtzeitig decken können. Dieser kann Warenlieferungen – gegenwärtig zum Beispiel Desinfektionsmittel oder auch Toilettenpapier – umfassen, sich ebenso aber auf Dienst- oder Bauleistungen beziehen.

Das Vergaberecht bietet dabei einen bunten Strauß an Möglichkeiten, wie mit der aktuellen Corona-Pandemie umgegangen werden kann. Dies ermöglicht es – zugeschnitten auf den Einzelfall –, „vorbereitet“ zu sein. In folgendem Beitrag werden in einem groben Abriss verschiedene Optionen für Vergabeverfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte aufgezeigt, um bei potenziellem Bedarf zu sensibilisieren.

Aus Gründen der Übersicht wird dabei zunächst zwischen laufenden und zukünftigen Vergabeverfahren unterschieden. So können die interessierten Leser passgenau den für sie relevanten Auszug finden.

Laufende Vergabeverfahren

Noch im Dezember 2019 war dem Großteil der deutschen Bevölkerung der Begriff „Corona“ – einmal von der mexikanischen Biermarke abgesehen – fremd. Die rasante Ausbreitung des Virus war unvorhersehbar. Öffentliche Auftraggeber – die zum Jahresbeginn 2020 noch arglos ausschrieben – befinden sich momentan in einer unangenehmen Schwebesituation. Denn es lässt sich bislang empirisch nicht prognostizieren, wann zu alter Tagesordnung zurückgekehrt werden kann.

Wie aber ist mit den bereits begonnenen Vergabeverfahren umzugehen?

Es besteht das Risiko, dass Bieter fernbleiben und es deshalb am Wettbewerb fehlt. Auftraggeber wären in der Folge zu Angebotsannahmen gezwungen, die zuvor noch undenkbar schienen.
Ebenso droht in vielen Fällen ein Abweichen des Leistungsbeginns von dem dafür vorhergesehenen Zeitfenster. Lieferketten werden unterbrochen, Folgeverträge können nicht erfüllt werden.

Das primäre Ziel eines jeden Auftraggebers sollte daher darin liegen, derartigen Szenarien vorzubeugen. Je nach Verfahrensstadium stehen dafür unterschiedliche vergaberechtliche Instrumente zur Verfügung.

Fristverlängerungen

1. Angebotsfrist

Öffentliche Auftraggeber sollten in jedem Fall über Verlängerungen im Hinblick sowohl auf die Angebots- als auch die Bindefrist nachdenken. Denn jede Fristverlängerung verschafft weitere Flexibilität, um auf die Auswirkungen der Pandemie zu reagieren.

Unter der Angebotsfrist versteht man diejenige Frist, innerhalb derer die Bieter ihre Angebote einzureichen haben.[1] Das Gesetz enthält für die vergaberechtlichen Regelfälle des Offenen und Nicht offenen Verfahrens lediglich Mindestangebotsfristen, vgl. §§ 15 Abs. 2, 16 Abs. 2 VgV (bzw. § 3 EU Nr. 1 und Nr. 2 VOB/A). Es kann daher durchaus Sinn machen, mittels Fristverlängerung die Ausschreibungsreichweite zu vergrößern und damit ebenfalls die Angebotsqualität zu erhöhen. Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass bei einer Verlängerung die Frist den Angemessenheits-Anforderungen des § 20 VgV (bzw. § 10 EU Abs. 1 VOB/A) standhält.

Ebenso muss bedacht werden, dass jeder Verlängerungsentscheidung eine pflichtgemäße Ermessensausübung zugrunde liegen muss. Sachfremde oder willkürliche Motive dürfen nicht der tragende Beweggrund sein.[2]

2. Bindefrist

Die Bindefrist meint die Frist innerhalb derer sich die Unternehmen an ihre Angebote binden müssen.[3] Sie ist in der VgV nicht ausdrücklich normiert, jedoch aus Gründen der Transparenz und Rechtssicherheit zwingend erforderlich.[4]

Benötigt nun der öffentliche Auftraggeber aufgrund quarantänebedingter Personalknappheit oder limitierter Kommunikationsmöglichkeiten mehr Zeit für die Angebotsprüfung, wäre auch hier eine Fristverlängerung durchaus nützlich. Relevanz kann dies vor allem dann haben, wenn vor Zuschlagserteilung Zustimmungen – beispielsweise eines Stadtrats – eingeholt werden müssen. Da das einseitige Durchsetzen einer Fristverlängerung ausscheidet, muss der öffentliche Auftraggeber daher bei Bedarf die Bieter um Verlängerungszustimmung bitten.

Fristverkürzungen

Gleichermaßen können aber auch Fristverkürzungen zweckmäßig sein. Vor allem bei notwendigen „Blitzbeschaffungen“ bietet sich dieses Instrument an. Zwar enthalten die vergaberechtlichen Regelfälle des Offenen wie auch des Nicht offenen Verfahrens Mindestfristen (vgl. u. a. §§ 15 Abs. 2, 16 Abs. 2 VgV bzw. § 10a EU Abs. 1, 10b EU Abs. 1, Abs. 2 VOB/A). Diese Regelfristen können jedoch bei „hinreichend begründeter Dringlichkeit“ verkürzt werden (§§ 15 Abs. 3, 16 Abs. 3 VgV bzw. § 10a EU Abs. 2 S. 1, 10b EU Abs. 3 S. 1 VOB/A). Erforderlich ist jedoch ein objektiv nachprüfbarer Grund, der einem Zuwarten bis zum Ablauf der Regelmindestfrist entgegensteht.[5] Im Einzelfall ist daher zu prüfen, ob der rasch benötigte Bedarf auf strukturellen Defiziten des Auftraggebers oder dem Virenausbruch beruht. Denn nur die Corona-Pandemie rechtfertigt in diesem Fall die hinreichend begründete Dringlichkeit.

Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass auch die Bindefrist einer Verkürzung zugänglich ist. Für Bauleistungen normieren § 10a EU Abs. 8 S. 1 VOB/A und § 10b EU Abs. 8 S. 1 VOB/A insbesondere, dass die Bindefrist so kurz wie möglich bemessen werden soll, und nicht länger, als der Auftraggeber für eine zügige Prüfung und Wertung der Angebote benötigt.

Bieterausschluss

Stammt das wirtschaftlichste Angebot von einem Bieter aus einem Corona-Hochrisikogebiet, stellt sich die Frage, wie der öffentliche Auftraggeber damit umzugehen hat.

Kann er den Bieter einfach ausschließen?

Dies wäre mit dem Diskriminierungsverbot aus § 97 Abs. 2 GWB nicht vereinbar. Dennoch sind Befürchtungen des öffentlichen Auftraggebers vor Leistungsverzögerungen und Arbeitsausfällen nicht von der Hand zu weisen. Wie also kann er sich absichern?

Gemäß § 122 Abs. 1 GWB werden öffentliche Aufträge nur an geeignete – legaldefiniert als fachkundige und leistungsfähige – Unternehmen vergeben. Bei Unternehmen aus Hochrisikogebieten können dabei durchaus Zweifel an der Leistungsfähigkeit aufkommen, weil sie beispielsweise nicht liefern oder ihre Mitarbeiter nicht ausreisen können. Im Einzelfall kann dies dann sogar einen Ausschluss rechtfertigen.[6]

Aufhebung

Als weitere Option steht dem öffentlichen Auftraggeber die Möglichkeit einer Aufhebung gemäß § 63 VgV (bzw. § 17 EU VOB/A) zur Verfügung. Diese kann ganz oder teilweise rechtmäßig erfolgen, wenn einer der in § 63 Abs. 1 VgV (bzw. § 17 EU Abs. 1 VOB/A) genannten Gründe vorliegt. Für die Corona-Pandemie ist vor allem § 63 Abs 1 Nr. 4 VgV (bzw. § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A) von Bedeutung. Hiernach ist eine Aufhebung zulässig, wenn „schwerwiegende Gründe“ vorliegen. Ob die Corona-Pandemie unter diesen unbestimmten Rechtsbegriff fällt, kann pauschal nicht beantwortet werden. Erforderlich ist vielmehr eine umfassende Interessenabwägung am jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher für die Aufhebung maßgeblicher Umstände.[7]

Öffentliche Auftraggeber sollten sich daher – um böse Überraschungen im Nachprüfungsverfahren zu vermeiden – einer peniblen Analyse ihrer Situation unterziehen. Denn Risiken drohen nicht nur beim Aufhebungsgrund. Auch die Aufhebungsentscheidung muss nach pflichtgemäßem Ermessen erfolgen. Formelle Anforderungen – wie die Dokumentation im Vergabevermerk mit konsistenter Begründung – sind einzuhalten.

Vertragsmodifizierungen

1. Für öffentliche Auftraggeber

Auch nach Zuschlagserteilung sind öffentliche Auftraggeber nicht schutzlos den Auswirkungen der Corona-Pandemie ausgeliefert. Je nach Infektionsverlauf können sich völlig unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich des Beschaffungsbedarfs ergeben, die gewisse Vertragsmodifizierungen erfordern. In den Vergabeunterlagen finden sich hierzu meist keine Regelungen.

Vertragsanpassungen müssen in vergaberechtlicher Hinsicht die Anforderungen des § 132 GWB erfüllen. Dabei ist dessen Normstruktur zu beachten. Während § 132 Abs. 1 GWB den Grundsatz regelt, definieren die § 132 Abs. 2 und Abs. 3 GWB hierzu Ausnahmen.

§ 132 Abs. 1 GWB normiert, dass bei wesentlichen Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit ein neues Vergabeverfahren durchzuführen ist. Entscheidend ist daher, welche Änderungen als „wesentlich“ einzustufen sind. „Wesentlich“ sind Änderungen, die dazu führen, dass sich der öffentliche Auftrag erheblich von dem ursprünglich vergebenen öffentlichen Auftrag unterscheidet.

Hat ein öffentlicher Auftraggeber zunächst 20 Respiratoren ausgeschrieben und benötigt nach neuer Lageeinschätzung 50 Stück, liegt eine wesentliche Änderung im Sinne des § 132 Abs. 1 GWB vor. Ein neues Vergabeverfahren wäre durchzuführen, angesichts der drängenden Zeit jedoch misslich.

Abhilfe verschafft § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB, der bei Änderungen, die für den Auftraggeber „unvorhersehbar“ waren und den Gesamtcharakter des Auftrags nicht verändern, eine Ausnahme zulässt. Die Verbreitung des Coronavirus war – wie eingangs bereits dargestellt – nicht absehbar. Im Regelfall dürfte daher die Ausnahme des § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB greifen.
Gleichwohl muss § 132 Abs. 2 S. 2 GWB beachtet werden, der eine Preisdeckelung vorsieht: erhöht werden darf auf nicht mehr als 50 Prozent des ursprünglichen Auftrags.

Auf unser Beispiel übertragen dürfte daher bei gleichbleibendem Verkaufspreis des Respirators eine einvernehmliche Vertragsanpassung auf 40 Stück erfolgen, ohne dass ein neues Vergabeverfahren vonnöten wäre.

2. Für Auftragnehmer

Der Ausbruch des Coronavirus kann jedoch auch für Auftragnehmer zum Drahtseilakt werden. Pocht der öffentliche Auftraggeber auf Einhaltung der Ausführungsfristen – obwohl die Auftragnehmer-Belegschaft durch Quarantänemaßnahmen fehlt – drohen Regressforderungen, Vertragsstrafen oder gar die Kündigung. Wie also wird dem Auftragnehmer geholfen?

Für Bau-, Liefer- und Dienstleistungsverträge findet sich ein „Rettungsanker“ im Gesetz. Nach § 6 Abs. 2 Nr. 1 c) VOB/B und § 5 Nr. 2 Abs. 1 S. 2 VOL/B sind die Ausführungsfristen angemessen zu verlängern, wenn „höhere Gewalt“ oder andere unabwendbare Umstände der Grund für die Behinderung des Auftragnehmers sind. Unter „höherer Gewalt“ versteht man ein von außen auf den Betrieb einwirkendes Ereignis, das selbst bei Anwendung äußerster Sorgfalt ohne Gefährdung des wirtschaftlichen Erfolgs des Unternehmers nicht abgewendet werden kann und nicht wegen seiner Häufigkeit von dem Betriebsunternehmer in Rechnung zu stellen und mit in Kauf zu nehmen ist.[8] Für den juristischen Laien ist diese Definition etwas sperrig. Eine von keiner der Parteien verschuldete Pandemie, die behördliche Ausgangsbeschränkungen provoziert, dürfte aber darunterfallen.

Sicherheitshalber sollte der Auftragnehmer dem Auftraggeber schriftlich eine Behinderung anzeigen (§ 6 Abs. 1 S. 1 VOB/B). Denn ob die Pandemie als offenkundige Tatsache gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 VOB/B – bei der es keiner Anzeige bedarf – einzuordnen ist, kann bisher nicht eindeutig beantwortet werden.

Neue Vergabeverfahren

Doch auch bei neuen Vergabeverfahren ist die Virenausbreitung von Belang. Entscheidend für das richtige Verhalten ist die Frage der Eilbedürftigkeit.
Ausschreibungen, denen unaufschiebbare Beschaffungen zu Grunde liegen, sind zeitlich zu komprimieren. Ausschreibungen, die bereits jetzt rein prophylaktisch oder in naher Zukunft anlaufen sollen, sind so vorzubereiten, dass sie sich gegenüber einer andauernden oder gar neuartigen Pandemie behaupten.

Eilbedürftig

Am interessantesten dürften für öffentliche Auftraggeber die Hilfestellungen bei eilbedürftigen Vergabeverfahren sein. Gerade im Bereich der Daseinsvorsorge werden aktuell nicht nur systemrelevante Dienstleistungen, sondern auch essenzielle Waren benötigt. Vor allem im praxisrelevanten Oberschwellenbereich besteht dabei ein Potpourri an Reaktionsmöglichkeiten.

1. Fristverkürzungen

Auch bei neuen Ausschreibungen können sich die öffentlichen Auftraggeber der Möglichkeit einer Regelfristverkürzung bedienen (siehe dazu bereits oben bei den laufenden Verfahren).

2. Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb

Zeit kann ebenfalls durch die Wahl der passenden Verfahrensart gewonnen werden. Im Vergabeverfahren existieren einige Verfahrensarten mit unterschiedlicher Ausgestaltung. In dringlichen Fällen sollte der öffentliche Auftraggeber auf das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 119 Abs. 5 GWB i. V. m. §§ 14 Abs. 4, 17 VgV (bzw. §§ 3a EU Abs. 3, 3b EU Abs. 3 Nr. 4, 10c EU Abs. 2 VOB/A) zurückgreifen. Denn bei dieser Verfahrensart entfällt die öffentliche Bekanntmachung mit Aufforderung zur Abgabe von Teilnahmeanträgen. Ferner kann der öffentliche Auftraggeber direkt mit den in Frage kommenden Unternehmen verhandeln, bevor er sie zur Abgabe von Erstangeboten auffordert.

Dies hat jedoch zur Folge, dass der Wettbewerb in besonderem Maße eingeschränkt wird. Auf das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb darf deshalb nur in Ausnahmefällen zurückgegriffen werden. Welche Ausnahmefälle dies sind, ergibt sich aus § 14 Abs. 4 VgV (bzw. § 3a EU Abs. 3 VOB/A).

Für die Corona-Pandemie ist erneut – wie bei der Regelfristverkürzung – § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV (bzw. § 3a EU Abs. 3 Nr. 4 VOB/A) maßgebliche Vorschrift. Dennoch differieren die Beurteilungsmaßstäbe. Hinsichtlich der Wahl der Verfahrensart sind die Anforderungen allerdings wesentlich strenger. Auch die Auslegung erfolgt deutlich restriktiver als bei der Fristverkürzung. Die Ursache liegt in der essenziellen Bedeutung des Grundsatzes des Wettbewerbs im Vergaberecht, § 97 Abs. 1 GWB.

Auch hier sollte daher eine genaue Einzelfallprüfung erfolgen.

3. Interimsvergaben

Eine weitere Option bietet sich dem öffentlichen Auftraggeber in Gestalt der Interimsvergabe.
Sie ermöglicht eine schnelle und pragmatische Bedarfsdeckung, ist aber als sogenannte ultima ratio das letzte geeignete Mittel, auf das in Dringlichkeitsfällen zurückgegriffen werden darf. Unter einer Interimsvergabe versteht man die ausnahmsweise freihändige und direkte – jedoch nur temporäre – Vergabe von Leistungen.[9] Vor allem in Notlagen lassen sich auf diese Weise Engpässe überbrücken.

Für eine Interimsvergabe müssen im Wesentlichen drei Voraussetzungen erfüllt sein:

Erstens bedarf es einer Not- bzw. Problemlage. Paradebeispiel hierfür wäre die Flutkatastrophe in Sachsen 2002. In der Coronavirus-Krise hat der Freistaat Bayern am 16.03.2020 als erstes Bundesland den Katastrophenfall ausgerufen. Unter der einheitlichen Leitung der Katastrophenschutzbehörde wurden dadurch die öffentlichen Kräfte gebündelt und koordiniert. Darüber hinaus konnte die Katastrophenschutzbehörde gemäß Art. 9 Abs. 1 S. 1 BayKSG zur Katastrophenabwehr von jeder Person die Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen verlangen sowie die Inanspruchnahme von Sachen anordnen. Auch wenn der proklamierte Katastrophenfall mit Ablauf des 16.06.2020 endete, belegt der Ausruf, wie ernst die derzeitige Situation ist. Angesichts steigender Fallzahlen kann eine Notlage schnell wieder Wirklichkeit werden.

Zweitens erfordert die Interimsvergabe – sofern die Umstände es erlauben – eine Erkundung des Bewerberkreises im Wege einer kursorischen Prüfung.[10] Eignungsanforderungen sind dabei Fachkunde, Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Gesetzestreue.

Drittens muss ein Interimsauftrag eine zulässige Laufzeit enthalten, die in Abhängigkeit der jeweiligen Notlage zu bestimmen ist. Als Faustformel gilt dabei: Je komplexer die zu beschaffenden Leistungen sind, desto länger darf der dafür anzusetzende Zeitraum sein.[11]

Auch wenn Interimsvergaben absolute Ausnahmefälle darstellen, sind sie in Ausnahmezeiten wie diesen in Erwägung zu ziehen.

Nicht eilbedürftig

Bei nicht eilbedürftigen Verfahren sollte bereits jetzt eine Auseinandersetzung mit dem zukünftigen Marktbild erfolgen, um exakt abschätzen zu können, ob, bis bzw. ab wann ein Vergabeverfahren sinnvoll erscheint.

Dabei muss vor allem die zunehmende wirtschaftliche Misere im Auge behalten werden. Denn es bleibt abzuwarten, ob die Staatshilfen die zu befürchtenden Insolvenzen abwenden können. Dezimiert sich hingegen der Bewerberkreis, hat dies weniger Wettbewerb und damit schlechtere Angebotsbedingungen zur Folge. Außerdem ist nach Bewältigung der Corona-Krise mit einem regelrechten Ansturm an Vergabeverfahren zu rechnen. Denn öffentliche Auftraggeber, die sich zurzeit angesichts der unbeständigen Lage mit Ausschreibungen zurückhalten, werden nicht einfach auf diese verzichten können. Die Gewähr eines Aufschubs dürfte zudem auch nur begrenzt möglich sein.

Die Zunahme von Vergabeverfahren führt wiederum zu einer stärkeren Auslastung noch bestehender Unternehmen. Die auf dem Markt verbliebenen Bewerber werden ihre günstige Position in den Angeboten entsprechend abbilden. Um diesem wirtschaftlichen Negativstrudel zu entgehen, sollte daher schon jetzt ein klarer Fahrplan entworfen werden.

Darüber hinaus ist jedem öffentlichen Auftraggeber anzuraten, von nun an Vertragsklauseln zu verwenden, die in Zukunft bei Fällen wie der Corona-Pandemie für Rechtssicherheit sorgen. Zu denken wäre dabei einerseits an Sonderkündigungs-, andererseits an Vertragsanpassungsrechte.

Fazit

Zusammengefasst lassen sich daher folgende Leitlinien zur Corona-Krisenbewältigung festhalten:

In laufenden Vergabeverfahren stehen dem öffentlichen Auftraggeber fünf Optionen zur Verfügung. Je nach Bedarf können Ausschreibungsfristen verlängert oder verkürzt werden. Unter Umständen kommt auch der Ausschluss eines Unternehmens bis hin zur Aufhebung der gesamten Ausschreibung in Betracht. Wurde der Zuschlag bereits erteilt, ist über Vertragsmodifizierungen nachzudenken.

Bei neuen Vergabeverfahren ist in einem ersten Schritt deren Dringlichkeit festzustellen.

Bei eilbedürftigen Ausschreibungen oberhalb der EU-Schwellenwerte kann eine Zeitersparnis in vier Weisen erfolgen. Neben der grundsätzlichen Überlegung, Fristen zu verkürzen, kann auch über die Wahl der Verfahrensart (Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb) eine respektable Zeitersparnis erzielt werden. Eine Interimsvergabe wäre als ultima ratio zu erwägen.

Öffentliche Auftraggeber sollten sich aber auch bei nicht eilbedürftigen Verfahren für die Zukunft nach Corona wappnen. Eine genaue Marktanalyse und das richtige Ausschreibungstiming sind hier das „A und O“.

Abschließend kann nur folgender Denkanstoß auf den Weg gegeben werden:
Coronaviren haben ein sehr charakteristisches Aussehen. Die Fortsätze ihrer kugelförmigen Hülle sehen aus wie ein Kranz (lateinisch: „corona“). Ein Kranz entsteht – abstrakt gesehen – durch das Zusammenflechten mehrerer Elemente. Auch das Vergaberecht kann sinnbildlich als Kranz verstanden werden. Es bündelt die Reaktionsmöglichkeiten auf die Infektionskrise. In beiden Fällen gilt das Credo der Vorsicht. Handeln Sie daher lieber jetzt mit Weitblick als später in Not.


[1] Dieckmann in: Dieckmann/Scharf/Wagner-Cardenal, VgV, UVgO, 2. Auflage 2019 § 15 Rn. 8.

[2] VK Bund Beschl. v. 15.10.2018 – VK 1-89/18 = ZfBR 2019, 202.

[3] Feldmann in: BeckOK Vergaberecht, Stand 31.01.2020, § 13 UVgO Rn. 27.

[4] Wagner-Cardenal in: Dieckmann/Scharf/Wagner-Cardenal, VgV, UVgO, 2. Auflage 2019 § 20 Rn. 60.

[5] Dörn in: Beck`scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2019, § 15 VgV Rn. 22.

[6] Friton in: BeckOK Vergaberecht, Stand 31.01.2019, § 122 GWB Rn. 3.

[7] Mehlitz in: Beck`scher Vergberechtskommentar, 3. Auflage 2019, § 63 VgV Rn. 49.

[8] Voit in: Messerschmidt/Voit, Privates Baurecht, 3. Auflage 2018, § 6 VOB/B Rn. 8.

[9] Marx/Hölzl NZBau 2010, 535.

[10] Marx/Hölzl NZBau 2010, 535; OLG Hamburg, Beschl. v. 08.07.2008, Az.: 1 Verg 1/08.

[11] Marx/Hölzl NZBau 2010, 535 (536).