15.07.2020 | Arbeitsrecht
„Deutschland in der Coronakrise manifestiert sich als großräumig angelegter Experimentierraum!“
Wie die hohe Resonanz auf den Befragungsaufruf zu den Erfahrungen mit Homeoffice zeigt, treibt die derzeitige Veränderung der Arbeitswelt und die Frage nach dem sog. „New Normal“, viele Verantwortungsträger um. Das Fraunhofer IAO elaborierte in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e.V. in der Studie „Arbeiten in der Corona-Pandemie – auf dem Weg zum New Normal“ die Effekte, Chancen und Herausforderungen virtueller Arbeitsformen in der Corona-Pandemie.
Verantwortliche aus 500 Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen teilten ihre Erfahrungen und Einschätzungen wie es weitergehen kann und welche Vorraussetzungen und Kompetenzen für das „New Normal“ erforderlich sind.
Modifikation der Arbeitssituation in Rekordzeit
Ausgangspunkt der meisten Unternehmen ist eine klassische Arbeitsorganisation:
- in 90 % der Unternehmen haben die Mitarbeiter grundsätzlich einen festen Büro-Arbeitsplatz.
Während der Corona-Pandemie änderte sich dies schlagartig:
- fast 70 % der Angestellten waren komplett im Homeoffice tätig;
- 21 % der Unternehmen hatten eine 50:50-Aufteilung gewählt, die geprägt war von dezentralen Absprachen über die Belegung der Büroarbeitsplätze.
Vor Corona hatten 54 % der Unternehmen keine oder nur wenig Mitarbeiter im Homeoffice. Im Fall der Inanspruchnahme von Homeoffice war dies maximal einen Tag pro Woche möglich. Die neuen Erfahrungen zeigen, dass Arbeits- und Kooperationsprozesse stärker virtualisierbar sind als bisher angenommen. Bei deutlich mehr als der Hälfte der Unternehmen wird eine Ausweitung virtueller Arbeitsformen erwartet:
- Über 60 % gaben an die Einsparpotentiale durch flexible Arbeit, wie kleinere Büroflächen, schätzen gelernt zu haben;
- 89 % der Befragten stimmten zu, dass Homeoffice in größerem Umfang realisiert werden kann, ohne dass hieraus Nachteile entstehen;
- Dienst- und Geschäftsreisen lassen sich nach Ansicht von 89% weitgehend digital ersetzen.
Auch Personalprozesse, wie Bewerbungs- und Mitarbeitergespräche, aber auch Kundenkontakte bis hin zu virtuellen Beratungs- und Dienstleistungskonzepten wurden als Lernerfahrungen angegeben.
Personalführung auf Distanz
Es zeigt sich, dass sich die bisher kritische Haltung von Führungskräften gegenüber ortsflexibler Arbeitszeit geändert hat:
- 47 % „stimmten voll und ganz zu“, dass Führungskräfte durch die Erfahrungen der letzten Wochen ihre Vorbehalte deutlich abgebaut haben;
- nur 2,4 % berichteten von Konflikten zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften aufgrund von vermehrtem Homeoffice;
- 40 % bemerkten, dass Schulungsdefizite in Bezug auf Führung auf Distanz bestehen;
- 12 % bejahten sogar eine Überforderung der Führungskräfte.
Technische Grundausstattung ist vorhanden, Homeoffice-Arbeitsplätze noch ungenügend
Erforderlich für die Arbeit im Homeoffice sind mobile Endgeräte, Möglichkeiten der Sprach- bzw. Videoverbindung und Unterstützung von Conferencing-Anwendungen sowie ein regulatorischer und datensicherheitstechnischer Rahmen. Diese Komponenten waren bei den meisten Unternehmen bereits verbreitet.
Nachholbedarf liegt hingegen bei nicht zu vernachlässigenden arbeitsergonomischen Details. Bis zu einem Drittel der heimischen Arbeitsplätze sind oder waren nicht mit höhenverstellbarem Stuhl und Schreibtisch oder zweitem Bildschirm ausgestattet. Die Studie ergab auch, dass Beschäftigte z.B. über Rückenschmerzen klagen, da der Arbeitsplatz zuhause unzureichend ausgestattet ist. 8 % bestätigten, dass Mitarbeiter aufgrund von z.B. zu kleinen Bildschirmen häufig in ihrer Produktivität eingeschränkt sind.
Das Ausmaß der Verweildauer im Homeoffice und die Regelmäßigkeit der Nutzung wird den Bedarf noch vergrößern. Die bisher gezogene Trennlinie zwischen klassischer Telearbeit und mobiler Arbeit und die damit einhergehenden Anforderungen an arbeitgeberseitige Ausstattungsverantwortung müssen daher neu diskutiert werden.
Auswirkungen auf Produktivität und Mitarbeitergesundheit
Die Flexibilisierung des New Normal birgt das Risiko der Entgrenzung von Arbeitszeiten und ein „Nicht-Abschalten“-Können von Mitarbeitern:
- 15 % bestätigten, dass die meisten Mitarbeiter zu unüblichen Tageszeiten arbeiten;
- 51 % gaben dies für wenig Beschäftigte an;
- 28 % registrierten Mehrarbeit an Wochenenden;
- 9 % gaben zudem an, dass Arbeitslasten ungleich verteilt werden aufgrund verminderter Kontrollmöglichkeiten.
Hinsichtlich der Überstunden kam es zu unterschiedlichen Erfahrungen:
- 7,4 % bestätigten deren Zunahme für wenig Beschäftigte, andererseits gaben
- 13 % an, dass Überstunden weniger werden.
Die Gründe dieser Diskrepanz sehen die Studienautoren in den unterschiedlichen Möglichkeiten oder auch Einschränkungen von zuhause aus zu arbeiten. Laut den Befragungen kam es zu Produktivitätsbeeinträchtigungen, die aber auch aufgrund von Sonderurlaub oder des Abbaus von Zeitkonten zustande kommen, welche mit der Mehrbelastung durch parallele Betreuungssituationen, möglicherweise auch mit der Inanspruchnahme von Kurzarbeit zusammenhängen.
Rolle der Unternehmenskultur und Nachholbedarf
Die Lernerfahrung mit der eindeutigsten Zustimmung von 94 % ist, dass ein guter Zusammenhalt und eine starke Unternehmenskultur durch die Krise tragen.
Gleichzeitig sahen Unternehmen Nachholbedarf im Management von Entgrenzungserscheinungen und entsprechender führungskräfteseitiger Kompetenzen. Die Mehrheit sieht Schulungs- und Kulturentwicklungsbedarf.
Gleiches gilt bei Medien- und Kommunikationskompetenzen, sowohl für den medienkompetenten Umgang zwischen Mitarbeitern als auch bei der Durchführung von Kundenkontakten über die Distanz. Nicht zu vernachlässigen ist, dass Arbeit eben mehr ist als der arbeitsbezogene Austausch über Informationen. Um im Team bestehen zu können, müssen Mitarbeiter den berühmten Flurfunk praktizieren können; Möglichkeiten für informelle Kommunikation bedürfen noch der Unterstützung.