26.02.2021 | Kartellrecht
Im Rahmen der Zumessung von Kartellbußgeldern können ab sofort Compliance-Maßnahmen bzw. Compliance-Management-Systeme bußgeldmindernd berücksichtigt werden. Dies gilt unabhängig davon, ob sie vor oder nach der Beteiligung an einem Kartellverstoß eingeführt wurden. Ausweislich der Gesetzesbegründung können sogar Compliance-Maßnahmen, die den Kartellverstoß im Ergebnis nicht verhindert haben, mit anderen Worten „gescheiterte“ Compliance-Maßnahmen, bußgeldmindernd berücksichtigt werden, sofern im Vorfeld alle objektiv erforderlichen Vorkehrungen ergriffen worden sind, um Kartellverstöße durch Mitarbeiter zu verhindern.
Inhalt der gesetzlichen Neuregelung
Im Rahmen der Bußgeldzumessung kommen ab sofort als abzuwägende Umstände in Betracht (§ 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 und 5 GWB):
- Vor der Zuwiderhandlung getroffene, angemessene und wirksame Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen (Nr. 4);
- das Bemühen des Unternehmens, die Zuwiderhandlung aufzudecken und den Schaden wiedergutzumachen sowie
- nach der Zuwiderhandlung getroffene Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen (Nr. 5).
Angemessenheit und Wirksamkeit von Compliance-Maßnahmen
Ausweislich der Gesetzesbegründung können Compliance-Maßnahmen als angemessen und wirksam berücksichtigt werden, wenn „der Inhaber eines Unternehmens alle objektiv erforderlichen Vorkehrungen ergriffen hat, um Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen durch Mitarbeiter wirksam zu verhindern. […] Dass es trotzdem zu einer Zuwiderhandlung gekommen ist, spricht nicht von vornherein gegen die Ernsthaftigkeit des Bemühens, kartellrechtliche Zuwiderhandlungen zu vermeiden.“ (vgl. BT-Drs. 19/25868 vom 13.01.2021). Folglich können (sogar) „gescheiterte“ Compliance-Maßnahmen bußgeldmindernd berücksichtigt werden.
Die Vorkehrungen sind nach der Gesetzesbegründung in der Regel angemessen und wirksam, wenn
- diese zur Aufdeckung und Anzeige der Zuwiderhandlung geführt haben und
- die Geschäftsleitung oder sonstige leitungsverantwortliche Mitarbeiter nicht selbst an dem Kartellverstoß beteiligt waren.
In Bezug auf die Angemessenheit und Wirksamkeit eines Compliance-Programms, welches im Vorfeld eines Kartellverstoßes eingeführt worden ist, weichen der Gesetzeswortlaut und die Gesetzesbegründung somit punktuell voneinander ab, weshalb der diesbezügliche Maßstab unklar bleibt. Während im Gesetzeswortlaut lediglich von „Vorkehrungen zur […] Aufdeckung“ eines Kartellverstoßes die Rede ist, wird in der Gesetzesbegründung (darüber hinaus) auf die „Anzeige“ des Kartellverstoßes abgestellt.
Diesbezüglich stellt sich zum einen die Frage, ob ein Compliance-Programm, welches im Vorfeld eines Kartellverstoßes eingeleitet worden ist, bereits dann bußgeldmindernd berücksichtigt wird, wenn es zur internen Aufdeckung (und Abstellung) eines Kartellverstoßes geführt hat, oder dies nur dann der Fall ist, wenn das (kartellbeteiligte) Unternehmen den Kartellverstoß (zusätzlich) mittels eines Kronzeugenantrags gegenüber der Kartellbehörde aufgedeckt hat. Umfasst also der Begriff „Aufdeckung“ (in § 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 GWB) nur die (unternehmens-)interne, oder zusätzlich auch die externe kartellbehördliche Aufdeckung infolge eines Kronzeugenantrags? Dies kann bspw. in Fällen relevant werden, in denen ein kartellbeteiligtes Unternehmen einen Kartellverstoß (zwar) im Rahmen eines Internal Audit aufdeckt und seine Beteiligung hieran abstellt, sich aber bewusst dafür entscheidet, diesen lediglich vorzubereiten und für den Fall einer Durchsuchung „in die Schublade zu legen“.
Zum anderen stellt sich die Frage, ob bzw. in welchem Umfang aus einem Kronzeugenantrag eine zusätzliche Bußgeldminderung resultiert, zumal ausweislich des (mit der 10. GWB-Novelle kodifizierten) Kronzeugenprogramms die Einreichung des Kronzeugenantrags bereits für sich genommen zu einer Ermäßigung bzw. im besten Fall einem Totalerlass des (ansonsten festzusetzenden) Kartellbußgeldes führt.
Der zu erfüllende Maßstab der Angemessenheit und Wirksamkeit von Vorfeld-Maßnahmen bleibt vor diesem Hintergrund durch die Rechtsprechung zu klären.
Kleine und mittelständische Unternehmen müssen nicht zwingend den „Goldstandard“ wählen
Die Einstufung von Compliance-Maßnahmen als „angemessen“ soll ausweislich der Gesetzesbegründung von folgenden Faktoren abhängen:
- Art, Größe und Organisation des Unternehmens,
- Risiko von Kartellverstößen vor dem Hintergrund des Unternehmensgegenstandes,
- Anzahl der Mitarbeiter und
- zu beachtende Vorschriften sowie Risiko der Verletzung dieser Vorschriften.
Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich in diesem Zusammenhang außerdem, dass insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen („KMU“) bei der Einführung bzw. Umsetzung von Compliance-Maßnahmen nicht zwingend den „Goldstandard“ wählen müssen, sofern die Maßnahmen „angemessen und wirksam“ sind und das Risiko eines Kartellverstoßes tendenziell gering ist. Es ist also nicht immer zwingend erforderlich, dass KMU ein kostspieliges IT-basiertes Compliance-Management-System zukaufen und/oder eine Compliance-Zertifizierung durchlaufen.
Für KMU können vielmehr auch „altbewährte“ Maßnahmen ausreichend sein; hierzu zählen etwa:
- Ernennung eines Compliance-Beauftragten (verantwortlich für das systematische und fortlaufende Screening und Monitoring kartellrechtlich relevanter Sachverhalte sowie die Koordination und Durchführung sämtlicher Maßnahmen)
- Erstellung von Leitlinien, Handlungsanweisungen und Checklisten („Dos & Don’ts“);
- Durchführung regelmäßiger (!) Schulungen;
- „Watchdog“-System: Genehmigungsprozesse, Berichts- und Dokumentationspflichten in Bezug auf die Teilnahme von Mitarbeitern an Branchentreffen und Messen sowie die Verbandsarbeit;
- Möglichkeit zur anonymen (internen) Meldung von Verstößen durch Mitarbeiter („Whistleblower-Hotline“).
Handlungsempfehlung
Unternehmen sollten die Neuregelung zum Anlass nehmen, Compliance-Maßnahmen zu ergreifen bzw. ein Compliance-Management-System einzuführen oder bestehende Maßnahmen zu überprüfen sowie falls erforderlich zu optimieren. In Ansehung der Gesetzesbegründung sollten die Maßnahmen passgenau auf den Unternehmensgegenstand und die Unternehmensstruktur abgestimmt werden.
Wenngleich KMU nicht zwingend den Compliance-Goldstandard wählen müssen, sollten auch diese - als Grundlage aller Compliance-Maßnahmen - eine Risikoanalyse durchführen, in deren Rahmen Marktstruktur und Marktkonzentration, Liefer- und Absatzbeziehungen, Einkaufs- und Vertriebskooperationen, Ausschreibungen, Vertragsgestaltung, Wettbewerberkontakte und Verbandsarbeit unter die Lupe genommen werden. Das Ziel einer solchen Analyse besteht im Wesentlichen in der Aufdeckung und Abstellung von Kartellverstößen sowie der Identifizierung gefährdeter Unternehmensbereiche.
Bei Verdachtsfällen sollte eine umfassende Auditierung durchgeführt werden, in deren Rahmen die vorgenannten Aspekte systematisch durchleuchtet werden. Diese sollte ein Amnestieprogramm für Mitarbeiter, Interviews mit Mitarbeitern und die systematische Auswertung des Daten- und Aktenbestandes umfassen. Bei größeren Unternehmen kann die Durchführung einer Risikoanalyse bzw. Auditierung im Hinblick auf die „Angemessenheit“ der Compliance-Maßnahmen sogar (grundsätzlich) erforderlich sein.