Keine Rügeobliegenheit bei de-facto-Vergaben trotz Angebotsabgabe

Dr. Jan Bernd Seeger

Dr. Jan Bernd Seeger

Bieter, die sich an einem nationalen Vergabeverfahren beteiligen, trifft vor Angebotsabgabe keine Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 GWB, wenn sie nach der Zuschlagserteilung eine unzulässige de-facto-Vergabe beanstanden. Dies hat das Oberlandesgericht Koblenz entschieden.

Keine Rügeobliegenheit bei de-facto-Vergaben trotz Angebotsabgabe
Keine Rügeobliegenheit bei de-facto-Vergaben trotz Angebotsabgabe

11.04.2022 | Vergaberecht

Der Fall

Die öffentliche Auftraggeberin schrieb Leistungen zur Verwertung von Altpapier national und ohne EU-weite Auftragsbekanntmachung auf Grundlage einer beschränkten Ausschreibung ohne Teilnahmewettbewerb aus. Aus Sicht der Auftraggeberin lag der Auftragswert aufgrund eines zu erwartenden Preisverfalls für die Verwertung von Altpapier unterhalb des maßgeblichen EU-Schwellenwertes. Dieser bestimme sich allein durch den Betrag, den die Auftraggeberin für die Verwertung an den Auftragnehmer leistet (sog. Handlingkosten). Zusätzlich überlässt der Auftraggeber dem Auftragnehmer aber auch, wie in der Branche üblich, das Verwertungsrecht am Altpapier. Hierfür zahlt dieser einen Erlös an die Auftraggeberin. Der Auftragnehmer erhält also von der Auftraggeberin das Verwertungsrecht und die Handlingkosten.

Die Antragstellerin wurde erst zwei Tage vor Ablauf der Angebotsfrist zum Verfahren zugelassen. Trotz der kurzen Zeitspanne reichte sie ein Angebot ein, das auf dem letzten Platz lag. Nach Kenntniserlangung über den Zuschlag beantragte die Antragstellerin die Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags vor der Vergabekammer. Der Auftrag überschreite den Schwellenwert; die Auftragswertschätzung sei fehlerhaft. Aus Sicht der Auftraggeberin sei der Nachprüfungsantrag unzulässig, weil die Antragstellerin die drohende de-facto-Vergabe vor Ablauf der Angebotsfrist hätte rügen müssen. Insoweit treffe sie als beteiligte Bieterin eine Obliegenheit. Nachdem die Vergabekammer dem Nachprüfungsantrag stattgab, wendete sich die Auftraggeberin mit der sofortigen Beschwerde beim Oberlandesgericht Koblenz (OLG) gegen die Entscheidung.

Die Entscheidung des OLG

Ohne Erfolg!

Der Auftrag überschreitet den maßgeblichen Schwellenwert. Die Auftraggeberin hat der Verfahrenswahl eine fehlerhafte Auftragswertschätzung zu Grunde gelegt; jedenfalls ist diese nicht hinreichend nachvollziehbar dokumentiert worden. Die Auftragswertschätzung stellt eine mit Unwägbarkeiten verbundene Prognose dar. Diese ist nicht zu beanstanden, wenn sie unter Berücksichtigung aller verfügbaren Daten in einer der Materie angemessenen und methodisch vertretbaren Weise erarbeitet wurde. Dem Auftrag ist der Wert zu Grunde zu legen, den ein umsichtiger und sachkundiger Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung des Marktsegments in Einklang mit einer betriebswirtschaftlichen Finanzplanung zugrunde legen würde. Weiterhin ist eine ordnungsgemäße und vollständige Dokumentation der Auftragswertschätzung verpflichtend. Die bloße Wiedergabe des Ergebnisses reicht nicht aus. Es müssen auch die ihm zugrunde liegenden Prämissen und Annahmen dargelegt werden. Gemessen an diesem Maßstab hat es die Auftraggeberin versäumt, unter Berücksichtigung von § 3 Abs. 1 VgV auch den Wert des Altpapiers in den Auftragswert einzubeziehen. Dieser ist als geldwerte Zuwendung zu berücksichtigen. Auch fehlt es an der ordnungsgemäßen Dokumentation.

Für die Antragstellerin besteht trotz ihrer Beteiligung am Vergabeverfahren keine Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 GWB. Der Wortlaut des § 160 Abs. 3 Satz 2 GWB ist eindeutig. Auch die historische Auslegung stützt dieses Ergebnis. Anders als nach § 101b Abs. 1 Nr. 2 GWB a.F. ist die Beteiligung des Bieters nach geltendem Recht unschädlich. Auch der Gedanke des effektiven Rechtsschutzes verlangt, dass § 160 Abs. 3 GWB eng ausgelegt wird. Schließlich ist die Rügeobliegenheit aus Sicht des OLG Koblenz auch europarechtlich nicht geboten. Eine hinreichend rasche und wirksame Überprüfung wird über § 135 Abs. 2 und § 135 Abs. 3 GWB sichergestellt. Insbesondere bestünde für die Fristenregelung des § 135 Abs. 2 Satz 1 GWB kein Bedürfnis, wenn für beteiligte Bieter vor Angebotsabgabe eine Rügeobliegenheit bei de facto Vergaben besteht.

Da vorliegend kein Grund für eine (nationale) Direktvergabe besteht, ist der Antrag auch begründet.

Auswirkungen auf die Praxis

Die Entscheidung des OLG Koblenz vom 01.09.2021 (Verg 1/21) stärkt den Bieterschutz. Sie eröffnet Bietern die Möglichkeit, trotz der Beteiligung am nationalen Vergabeverfahren eine de facto Vergabe auch nach der Zuschlagsentscheidung im Nachprüfungsverfahren zu beanstanden, ohne die fehlerhafte Verfahrenswahl vor Ablauf der Angebotsfrist rügen zu müssen. Damit ist das OLG auf Linie der Vergabekammer Südbayern (18.07.2019 - Z3-3-3194-1-14-05/19). Die Entscheidung zeigt Auftraggebern zudem den Rahmen und die Bedeutung einer sorgfältigen Auftragswertschätzung auf. Wie so oft sollten Auftraggeber auch hier nicht die Vergabedokumentation vernachlässigen.