Die Vorrangrechtsprechung des XI. Zivilsenats des BGH

Karina Schreyer-Zacharias

Der XI. Zivilsenat des BGH schließt eine Haftung nach den Grundsätzen der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung im Anwendungsbereich der spezialgesetzlichen Prospekthaftung ausdrücklich aus – und setzt sich damit in direkten Widerspruch zur Rechtsprechung des II. Zivilsenates.

Hintergrund

Allgemein sind zwei Formen der Prospekthaftung, mithin der Haftung für die Erstellung und/oder Verwendung eines unrichtigen oder unvollständigen Prospekts im Kapitalmarkt, anerkannt – zum einen die in verschiedenen Gesetzen ausdrücklich geregelte Prospekthaftung (sog. spezialgesetzliche Prospekthaftung) und zum anderen die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung, welche maßgeblich auf Richterecht beruht und auf §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB gestützt wird.

Vorrangrechtsprechung des XI. Zivilsenats

Mit einer ganzen Reihe von Beschlüssen aus den Jahren 2021 und 2022 – verwiesen sei insbesondere auf in den Verfahren zu den Az. XI ZB 35/18, XI ZR 395/21, XI ZB 23/20 und XI ZB 34/19 ergangene Beschlüsse – hat der XI. Zivilsenat des BGH den Anwendungsbereich der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung massiv eingeschränkt und entschieden, dass im Falle der grundsätzlichen Anwendbarkeit einer spezialgesetzlichen Prospekthaftungsnorm ein Rückgriff auf die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung ausgeschlossen ist.

Zur Begründung stellt der Senat auf die „rechtstatsächlichen Besonderheiten des Kapitalmarkts“ ab, welche spezialgesetzlich insbesondere in der Möglichkeit der Exkulpierung mittels Nachweises einfach fahrlässiger Unkenntnis der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Prospekts sowie der kurzen Sonderverjährungsfrist des § 46 BörsG aF bzw. der Ausschlussfristen gemäß § 20 Abs. 2 VermAnlG oder § 9 Abs. 1 WpPG Berücksichtigung finden. Der Senat verweist zudem auf die unterschiedliche Ausgestaltung der jeweiligen Rechtsfolge; so ist die spezialgesetzliche Prospekthaftung anders als die bürgerlich-rechtliche nicht als Schadensersatzanspruch, sondern als „modifiziertes Rücktrittsrecht“ ausgestaltet.

Um diese vom Gesetzgeber beabsichtigte Begrenzung des Haftungsrisikos des Prospektverantwortlichen nicht zu unterlaufen, müssen die spezialgesetzlichen Regelungen nach Ansicht des Senats als abschließend angesehen werden. Eine Haftung nach den Grundsätzen der bürgerlich-rechtlichen Prospekthaftung kommt demnach nur bei Sachverhaltskonstellationen in Betracht, die von der gesetzlich geregelten Prospekthaftung überhaupt nicht erfasst sind, wie beispielsweise im Falle unrichtiger mündlicher Zusicherungen.

Abweichende Rechtsprechung des II. Zivilsenats

Damit setzt sich der XI. Zivilsenat in direkten Widerspruch zur Rechtsprechung des II. Zivilsenats. Dieser hatte etwa mit Urteil vom 9. Juli 2013, Az. II ZR 9/12, ausdrücklich entschieden, dass die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung durch die spezialgesetzlichen Vorschriften „nicht außer Kraft gesetzt wird“.

Gleichwohl hat der XI. Senat keinen Fall einer Binnendivergenz angekommen und ohne Vorlage beim Großen Zivilsenat mit Beschluss vom 15. März 2022, Az. XI ZB 31/20, auf seine ausschließliche Zuständigkeit hinsichtlich der spezialgesetzlichen Prospekthaftung und deren „Reichweite“ als „Bankensenat“ verwiesen und dem II. Zivilsenat damit jegliche diesbezügliche Entscheidungskompetenz abgesprochen.

Der II. Zivilsenat bewertet dies indes gänzlich anders und hat zuletzt mit Beschluss vom 25. Oktober 2022, II ZR 22/22 – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die dargestellte Rechtsprechung des XI. Zivilsenates – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten.

Die Folgen dieses Meinungsstreits in Rechtsprechung, Praxis und Gesetzgebung bleiben abzuwarten.