Streitentscheidend war die Frage, ob eine von der Patentinhaberin ca. zwei Jahre vor dem Prioritätsdatum des Streitpatents an einen Abnehmer verkaufte und ausgelieferte Anlage zur Konditionierung von Halbleiterwafern als „offenkundige Vorbenutzung“ neuheitsschädlich für das Patent ist.
Das Bundespatentgericht hat dies angenommen. Der BGH hat dies anders beurteilt und als Leitsatz formuliert:
„Lieferung, Installation und Inbetriebnahme einer Anlage bei einer Käuferin begründen nicht ohne Weiteres eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass beliebige Dritte die Anlage untersuchen und dadurch Kenntnis von der Erfindung erhalten.“
Der BGH zitiert zunächst die eigene Rechtsprechung (Urteil vom 09.12.2014, Az.: X ZR 6/13 – „Presszange“, und Urteil vom 08.11.2016, Az.: X ZR 116/14), wonach eine offenkundige Vorbenutzung vorliegt, wenn nicht nur die theoretische und entfernt liegende Möglichkeit eröffnet ist, dass beliebige Dritte, und damit auch Fachkundige, zuverlässige und ausreichende Kenntnis von der Erfindung erlangen, wovon nach der Lebenserfahrung auszugehen ist, wenn eine erfindungsgemäße Vorrichtung einem Dritten angeboten oder geliefert worden ist. Im entschiedenen Fall sah der BGH jedoch nur eine theoretische oder entfernt liegende Möglichkeit der Kenntnisnahme als gegeben an.
Für diese Beurteilung war eine Reihe von Faktoren maßgeblich: Die Mitarbeiter der Abnehmerin konnten beim normalen Betrieb der Anlage vor dem Prioritätstag keine Kenntnisse über den inneren Aufbau des patentgemäßen Kühl- und Temperierungssystems erlangen. Sie durften bis auf Änderungen an der Mess-Software keine Veränderungen an dem Gerät vornehmen, und auch eine nähere Untersuchung der Anlage durch Dritte war ohne Zustimmung der Abnehmerin nicht möglich. Nach der Überzeugung des BGH bestand auch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass Mitarbeiter der Abnehmerin bis zum Prioritätstag des Streitpatents versucht hätten, Kenntnisse über die Funktionsweise des patentgemäßen Kühlsystems zu gewinnen, oder dass sie dazu Dritten Zugriff auf die Anlage ermöglicht hätten. Installation, Wartung und Reparatur der Anlage oblag allein der Lieferantin. Um die patentgemäße Funktionsweise nachzuvollziehen, hätte die Anlage beschädigt und anschließend wieder repariert werden müssen.
Die Entscheidung ist aus einer ganzen Reihe von Gründen bemerkenswert und scheint, der Entscheidungspraxis des Europäischen Patentamts zu widersprechen. Dabei sind zwei Themen voneinander zu unterscheiden: Erstens, was bedeutet „Öffentlichkeit“, und insbesondere, gehören die Mitarbeiter der Abnehmerin zu dieser „Öffentlichkeit“? Zweitens, was ist durch die Lieferung der Anlage vor dem Hintergrund, dass die erfindungswesentlichen Bestandteile nur nach Beschädigung erkennbar waren, „zugänglich“ gemacht worden?
Zu dem ersten Thema heißt es in der Rechtsprechung des BGH (zuletzt Urteil vom 08.11.2016, Az.: X ZR 116/14, Rn. 25) sehr klar:
„Die Veräußerung eines Gegenstands, der die Lehre des Streitpatents vorwegnimmt, ohne Begründung einer Geheimhaltungspflicht, führt für sich genommen noch nicht zur Offenkundigkeit. Es muss vielmehr darüber hinaus die nicht nur theoretische Möglichkeit eröffnet sein, dass beliebige Dritte und damit auch Fachkundige zuverlässige und ausreichende Kenntnis von der Erfindung erlangen.“
Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts weicht hiervon erheblich ab: Wenn weder eine explizite noch eine implizite Geheimhaltungsabrede besteht, ist der Abnehmer Teil der Öffentlichkeit. So heißt es in der Beschwerdekammerentscheidung T 2210/12 vom 07.10.2016 unter Punkt 1. 2.2 zu einer an VW gelieferten Anlage:
„Da die Firma VW bereits selbst einen Teil der Öffentlichkeit darstellt, ist unerheblich, ob weitere Dritte Zugang zum Werksgelände hatten oder nicht.“
Die Beschwerdekammerentscheidung T 2272/11 vom 05.04.2016 kommt zu demselben Ergebnis. Schon zu diesem ersten Thema besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der Rechtsprechung des BGH und der Beschwerdekammern.
Zu dem zweiten Thema sind Ausgangspunkt und kontinuierlich zitierte Entscheidungsgrundlage der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamt die „Opinion“ der Großen Beschwerdekammer G1/92 vom 18.12.1992, in der es auf Seite 3 heißt:
„Where it is possible for the skilled person to discover the composition of the internal structure of the product and to reproduce it without undue burden, then both the product and its composition or internal structure become state of the art.
There is no support in the EPC for the additional requirement referred to by Board (…) that the public should have particular reasons for analysing a product put on the market, in order to identify its composition or internal structure.”
Auf Seite 4 heißt es weiter:
„The introduction of such an additional requirement would remove a commercially available and reproducible product from the public domain. It would mean an unfounded deviation from the principles applied in respect of the other sources of the state of the art as defined in Article 54 (2) EPC and it would obviously represent an element of subjectivity leading to uncertainty in applying the concept of novelty as defined in this Article.”
Diese Ausführungen der Großen Beschwerdekammer scheinen dem vom BGH – auch – zur Begründung herangezogenen Gesichtspunkt diametral zu widersprechen, die Abnehmerin der Anlage zur Konditionierung von Halbleiterwafern hätten keinen hinreichenden Grund gehabt, die Funktionsweise zu analysieren. Bei genauerer Analyse ist diese Schlussfolgerung allerdings nicht zwingend: In der BGH-Entscheidung wird ein weiterer Gesichtspunkt angeführt, nämlich dass die Mitarbeiter der Abnehmerin an der Anlage bis auf Änderungen der Mess-Software keine Änderungen vornehmen durften. Installation, Wartung und Reparatur der Anlage oblagen allein der Lieferantin. Auch wenn die BGH-Entscheidung zu diesem Aspekt nicht völlig eindeutig ist, ist die Annahme gerechtfertigt, dass die Lieferantin die Gewährleistung für die Anlage nur unter der Voraussetzung aufrechterhielt, dass sie auch von der Lieferantin gewartet wurde und dass den Mitarbeitern der Abnehmerin dementsprechend eine Demontage und Beschädigung untersagt war.
Damit scheint der Konflikt zur Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer allerdings nicht vollständig ausgeräumt zu sein, weil die Lieferantin eine Anlage ohne Geheimhaltungsabrede an eine Abnehmerin ausgeliefert hat und es objektiv möglich war, die Anlage zu untersuchen und die erfindungsgemäße Funktion zu erkennen. Eine Demontage der Anlage bei der Abnehmerin mag zum Verlust von Gewährleistungsansprüchen geführt haben; die BGH-Entscheidung sagt aber nicht klar, dass die Demontage aus Rechtsgründen verboten war.
Diese Konstellation unterscheid sich durchaus von der einer expliziten oder impliziten Geheimhaltungsabrede. Erfolgt eine Lieferung unter einer solchen Abrede, hat der Lieferant den gelieferten Gegenstand nämlich gerade nicht willentlich in die „Public Domain“ übergeben, und ein Verstoß stellt einen Vertragsbruch dar. Zusammenfassend hat der BGH in der Entscheidung einen für den Patentinhaber sehr günstigen und großzügigen Maßstab angelegt. Eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts wäre wünschenswert gewesen.