Dehnt der EuGH das Urheberrecht auf technische Gestaltungen aus?

Dr. Karsten Brandt

Der EuGH (Urteil vom 11.06.2020, Az.: C-833/18) sieht ein von Brompton entwickeltes Faltrad nach europäischem Urheberrecht prinzipiell schutzfähig an.

20.08.2020 | IP-Recht

Sachverhalt

Das von Brompton seit 1987 vermarktete Faltrad kann drei Positionen einnehmen: Eine gefaltete, eine entfaltete und eine Zwischenposition, in der es im Gleichgewicht auf dem Boden steht. Die technische Lösung war durch ein Patent geschützt, das abgelaufen ist.

Die nachfolgende technische Zeichnung aus dem abgelaufenen Brompton Patent EP 0 026 800 B1 dient nur der Illustration. Zu den aktuell vermarkteten Modellen bestehen Unterschiede.

 

©BROMPTON

Get2Get vermarktet ein nachgebautes Faltrad und ist deshalb von Brompton vor dem Tribunal de l´ entreprise de Liège verklagt worden. Das Tribunal hat dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Fragen, die letztlich die Schutzfähigkeit des Faltrades durch europäisches Urheberrecht (Art. 2 bis 5 der Richtlinie 2001/29) betreffen, vorgelegt.

Entscheidung des EuGH

Ein schutzfähiges „Werk“ setzt voraus, dass es sich (1) um ein „Original“ handelt, das eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers ist, und (2) dass diese Schöpfung zum Ausdruck gebracht worden ist. Damit ein Gegenstand ein „Original“ ist, muss er die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegeln, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt.

Was bedeutet das für Gegenstände, die zumindest teilweise eine technische Lösung verkörpern?

Der EuGH sieht die Voraussetzung der „Originalität“ als gegeben und den Gegenstand als prinzipiell urheberrechtsfähig an, wenn er zwar auf der Grundlage bestimmender technischer Erwägungen geschaffen wurde, diese den Urheber aber nicht daran gehindert haben, seine Persönlichkeit in dem Gegenstand widerzuspiegeln, indem er freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt. Letzteres hält der EuGH bei „Komponenten eines Gegenstandes“ für ausgeschlossen, die nur von ihrer technischen Funktion gekennzeichnet sind. Gleiches gilt, wenn die Form des Erzeugnisses ausschließlich durch seine technische Funktion bedingt ist.

Regelmäßig gibt es verschiedene Formen, die eine technische Funktion erfüllen und deshalb Wahlmöglichkeiten. Der EuGH stellt hierzu klar, dass die bloße Existenz von Wahlmöglichkeiten nicht ausreicht, um einem Erzeugnis die nötige Originalität zuzusprechen. Vielmehr müsse mit der Wahl der Form des Erzeugnisses die schöpferische Fähigkeit des Urhebers in eigenständiger Weise zum Ausdruck gebracht werden, indem er freie und kreative Entscheidungen trifft, so dass die Form seine Persönlichkeit widerspiegelt.

Der Umstand, dass für ein Erzeugnis parallel Patentschutz besteht oder bestanden hat, spielt nach dem EuGH allenfalls am Rande eine Rolle: Eine Patentschrift mag Erwägungen enthalten, die bei der Wahl der Form des betreffenden Erzeugnisses berücksichtigt wurden.

Praxistipp

Zunächst ist zu begrüßen, dass der EuGH ein Erzeugnis, dessen Form zumindest teilweise durch die technische Funktion begründet ist, unter den diskutierten Voraussetzungen als durch europäisches Urheberrecht geschützt ansieht. Wegen der erheblich längeren Schutzdauer des Urheberrechts kann dies für den Originalhersteller von entscheidendem Vorteil sein, wenn – wie hier – der Patentschutz abgelaufen ist.

Nach der bisherigen Rechtsprechung in Deutschland führte die „technische Bedingtheit“ von Gestaltungsmerkmalen recht leicht zum Ausschluss des Urheberrechtsschutzes. So hat der Bundesgerichtshof (BGH) in der Entscheidung „Seilzirkus“ vom 12. Mai 2011 (Az.: I ZR 53/10) das nachfolgend abgebildete Spielplatz-Kletternetz als nicht durch Urheberrecht geschützt angesehen.

 

 

©BUNDESGERICHTSHOF

In der Entscheidung des BGH (dort Rn. 20, 21) heißt es wörtlich:

„Technisch bedingt sind diejenigen Merkmale eines Gebrauchsgegenstandes, ohne die er nicht funktionieren könnte […]. Dazu gehören sowohl Merkmale, die bei gleichartigen Erzeugnissen aus technischen Gründen zwingend verwendet werden müssen, als auch Merkmale, die zwar aus technischen Gründen verwendet werden, aber frei wählbar oder austauschbar sind…Soweit die Gestaltung solcher Merkmale allein auf technischen Erfordernissen beruht, können sie einem Gebrauchsgegenstand keinen Urheberrechtsschutz verleihen […]. Hinzu kommt, dass im System der Rechte des geistigen Eigentums technisch bedingte Merkmale, die nicht (mehr) als technische Erfindungen Patentschutz oder Gebrauchsmusterschutz genießen, im Hinblick auf das öffentliche Interesse an einer ungehinderten technischen Entwicklung grundsätzlich frei verwendbar sein sollen.“

Der Vortrag des Klägers, dass es vielfältige abweichende Varianten für die Gestaltung eines Kletternetzes gibt, vermochte die BGH-Entscheidung nicht zu beeinflussen.

Der EuGH ist hier unter verschiedenen Gesichtspunkten deutlich großzügiger, was die Schutzfähigkeit durch Urheberrecht angeht: Technische Erwägungen sind unschädlich, solange der Urheber seine freien kreativen Entscheidungen zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus sieht der EuGH – anders als der BGH in der Entscheidung „Seilzirkus“ – den Umstand, dass einmal Patentschutz bestanden hat, als unschädlich an.

Auch das ist zu begrüßen, weil Patentschutz und Urheberrecht gänzlich verschiedene Gegenstände und Voraussetzungen haben: Beispielsweise ist die abstrakte technische Idee, dass ein Faltrad drei Positionen einnehmen kann (eine gefaltete, eine entfaltete und eine Zwischenposition, in der es im Gleichgewicht auf dem Boden steht), dem Patentschutz, nicht jedoch dem Schutz durch Urheberrecht  zugänglich. Umgekehrt kann die bloße Erscheinungsform des Brompton Faltrades dem Schutz durch Urheberrecht zugänglich sein, nicht jedoch dem Patentschutz.

Zusammenfassend führt die EuGH-Entscheidung zu einer Ausdehnung des Urheberrechtsschutzes, und die Rechtsprechung in Deutschland dürfte in einigen Aspekten zu überdenken sein.