Präsidentin des BAG: „Zeiterfassung bereits gesetzliche Pflicht"

Dr. Kai-Niklas Knüppel

Am 13. September 2022 (1 ABR 22/21) hat das BAG entschieden, dass Arbeitgeber bereits nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet sind, eine Arbeitszeiterfassung einzuführen. | Co-Autor: Pattrick Unger

13.09.2022 | Arbeitsrecht

Bereits im Mai 2019 hatte der EuGH entschieden, dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber dazu verpflichten müssen ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung einzurichten. Während das BAG (v. 4. Mai 2022, 5 AZR 359/21) entschied, dass das Stechuhr-Urteil des EuGH zu keiner Änderung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess führt, war bisher ungeklärt, ob das Urteil Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter zu erfassen.

Der Ausgangsfall

In dem Fall, den das BAG zu entscheiden hatte, ging es eigentlich um die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats. Betriebsrat und Arbeitgeber führten seit 2017 Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung zur Erfassung der Arbeitszeit, die Ende Mai 2018 abgebrochen wurden. Auf Antrag des Betriebsrats wurde durch das Arbeitsgericht Minden eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ eingesetzt.

Arbeitgeber rügte Initiativrecht des BR

Der Arbeitgeber rügte im Rahmen einer Sitzung der Einigungsstelle, dass ein Initiativrecht des Betriebsrats bei Einführung einer technischen Einrichtung i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG – also hinsichtlich der Frage, ob eine technische Einrichtung eingeführt werde – nicht bestehe und die Einigungsstelle daher nicht zuständig sei. Das Einigungsstellenverfahren wurde ausgesetzt und ein Beschlussverfahren vor dem Arbeitsgericht Minden eingeleitet.

Das Arbeitsgericht Minden wies den Antrag des Betriebsrats ab und stützte sich dabei im Wesentlichen auf die Ausführungen des BAG (v. 28.11.1989, 1 ABR 97/88), dass ein Initiativrecht des Betriebsrats bei Einführung einer elektronischen Zeiterfassung verneint. Ein Initiativrecht ergebe sich auch nicht aus der im Mai ergangenen Entscheidung des EuGH zur Arbeitszeiterfassung: Zum einen gehe es vorliegend um Fragen der betrieblichen Mitbestimmung und nicht des Arbeitszeitrechts und zum anderen begründe die Entscheidung des EuGH allein eine Verpflichtung für den Gesetzgeber und keine unmittelbare Handlungspflicht für Arbeitgeber.

Überraschend dann das LAG Hamm

Durchaus überraschend gab das LAG Hamm (v. 27.7.2021, 7 TaBV 79/20), dem klagenden Betriebsrat recht. Der Gesetzgeber habe in § 87 Abs. 1 BetrVG ausdrücklich keine „Aufspaltung“ der Mitbestimmungsrechte in Mitbestimmungsrechte mit und ohne Initiativrecht vorgesehen. Auf die Frage, ob sich ein Initiativrecht des Betriebsrats aus dem EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung ergibt, käme es daher nicht an.

Die Entscheidung des BAG: Kein Initiativrecht des Betriebsrats

Die anschließende Revision des Arbeitgebers war vor dem BAG nicht erfolgreich. Das BAG lehnte ein Mitbestimmungs- und damit auch Initiativrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG besteht nur, wenn und soweit eine betriebliche Angelegenheit nicht bereits gesetzlich geregelt ist.

Aber: Pflicht zur Zeiterfassung

Der Arbeitgeber ist unionsrechtskonformer Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes (genauer: § 3 Abs. 2 S. 1 ArbSchG) jedoch verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die (gesamte) Arbeitszeit der Arbeitnehmer erfasst werden kann. Hierzu bedarf es keine vorherigen Regelung durch den Gesetzgeber. Das schließt ein – gegebenenfalls mit einer Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats aus.

Weitreichende Folgen für die Praxis

Das Urteil des BAG dürfte weitreichende Folgen für die Praxis haben. Bisher waren Arbeitgeber nach dem Arbeitszeitgesetz (ArbZG) nur verpflichtet Überstunden und Sonntagsarbeit zu dokumentieren, nicht aber die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmer.

„Wenn man das deutsche Arbeitsschutzgesetz mit der Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs auslegt, dann besteht bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung.“ (Präsidentin des BAG Inken Gallner)

Sofern bereits eine umfassende elektronische Zeiterfassung im Betrieb besteht, dürfte das Urteil des BAG von geringerem Interesse sein. Sofern im Betrieb aber (insbesondere für Mitarbeiter, die im Homeoffice oder mobil arbeiten) flexible Arbeitszeitmodelle wie Vertrauensarbeitszeit gelten, besteht Handlungsbedarf.

Bis zur vollständigen Veröffentlichung des Urteils bleibt zwar offen, ob das BAG weitere konkrete Anforderungen an ein Zeiterfassungssystem stellt. Nichtsdestotrotz sollten sich Arbeitgeber zwingend Gedanken machen, welches Zeiterfassungssystem für das eigene Unternehmen sinnvoll und umsetzbar erscheint und wie es implementiert werden kann.

Veranstaltungseinladung

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