Ausgangsfall
Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) schreibt einen Lieferauftrag aus. Es bewerben sich mit A und B nur zwei Bieter auf den Auftrag. A gibt in seinem Angebot an, dass er den zu liefernden Gegenstand von der C-GmbH erwerben würde. Bei dieser soll es sich laut A lediglich um einen Lieferanten handeln. Gleichwohl gibt A in einem Begleitschreiben zu seinem Angebot an, dass die „Ausführungaller Arbeiten“ durch die C erfolgen soll.
AG geht aufgrund dessen davon aus, dass es sich bei C um einen Unterauftragnehmer des A handelt, weshalb A noch bestimmte Unterlagen zu dieser Nachunternehmerschaft einreichen müsste. AG entscheidet sich aber wegen bereits eingetretener Verzögerungen im Verfahren gegen eine Nachforderung der Unterlagen und schließt stattdessen A nach § 57 I Nr. 2 VgV vom weiteren Verfahren aus. Er setzt A zudem darüber in Kenntnis, dass er beabsichtigt, B zu beauftragen. A leitet daraufhin ein Nachprüfungsverfahren gegen AG vor der VK Hessen ein. Die VK gibt den Anträgen des A statt, so dass AG sofortige Beschwerde beim OLG Frankfurt a. M. einlegt.
Beschluss
Das OLG kommt zu dem Ergebnis, dass der Ausschluss von A aus dem Verfahren rechtswidrig war, weil sich AG ermessensfehlerhaft gegen die Nachforderung entschieden hat. Das Gericht stellt klar, dass Verzögerungen im Verfahren an sich noch keine Rechtfertigung dafür darstellen, dass auf die Nachforderung verzichtet wird. Denn grundsätzlich führt jede Nachforderung zu einer Verzögerung des Verfahrens. Der Auftraggeber ist daher gehalten, im Rahmen seines Nachforderungsermessens abzuschätzen, zu welchen konkret zu erwartenden Verzögerungen es infolge der Nachforderung kommen würde. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, ob der Auftraggeber diese Auswirkungen nicht durch frühere Nachforderungen hätte abmildern oder vermeiden können. Das Gericht geht des Weiteren davon aus, dass das Absehen von der Nachforderung wegen weiterer Verzögerungen das Eintreten der Dringlichkeit bei der Auftragsvergabe voraussetzt.
Auftraggeber müssen nach dem OLG zudem berücksichtigen, welche konkreten Auswirkungen der Ausschluss des betreffenden Angebots wegen fehlender Unterlagen auf den Wettbewerb um den Auftrag haben würde. Das Gericht weist im konkreten Fall darauf hin, dass sich wegen des Ausschlusses nur noch ein Bieter im Verfahren befand. Es hebt vor diesem Hintergrund zentral hervor, dass die Möglichkeit der Vergabestelle zur Nachforderung von Unterlagen den Zweck verfolgt, den Ausschluss von Angeboten aus rein formalen Gründen zu verhindern und die Anzahl der am vergaberechtlichen Wettbewerb teilnehmenden Bieter nicht unnötig zu reduzieren. Öffentliche Auftraggeber müssen diese Zwecksetzung des § 56 Abs. 2 VgV bei der Ausübung ihres Ermessens zwingend beachten.
Fazit
Mit dieser Entscheidung reiht sich das OLG Frankfurt in den aktuellen Trend der Rechtsprechung ein, wonach die Nachforderung von Unterlagen oder die Aufklärung von widersprüchlichen Angaben in der Regel durchgeführt werden müssen. Aus der Entscheidung wird ersichtlich, dass der durch § 56 Abs. 2 VgV eingeräumte Ermessensspielraum durch den Wettbewerbsgrundsatz dahingehend „vorstrukturiert“ wird, dass die Nachforderung in typischen Fällen bei lediglich formalen Defiziten des Angebots durchgeführt werden muss. Nur in atypischen Fällen kann der öffentliche Auftraggeber umfassende Ermessenserwägungen anstellen, in deren Rahmen er von der Nachforderung (oder der Aufklärung) im Einzelfall auch absehen kann.