Größeres Haftungsrisiko bei Vergabeverstößen?

Aron Habteghebriel

Sind nach dem Urteil des EuGH vom 6.6.2024 mehr Bieter bei fehlerhaften Vergaben für Schadensersatz anspruchsberechtigt? Zum Schadensersatz für den Verlust der Zuschlagschance – Anm. zum Urteil des EuGH vom 06.06.2024/– C-547/22

12.02.2025 | Vergaberecht

Hintergrund

Nach der nationalen Rechtsprechung steht einem Bieter ein Schadensersatzanspruch wegen entgangenen Gewinns nur zu,

„wenn der ausgeschriebene oder ein diesem wirtschaftlich gleichzusetzender Auftrag erteilt worden ist und ihm (Anm.: dem ausgeschlossenen Bieter) bei rechtmäßigem Verlauf des Vergabeverfahrens der Zuschlag hätte erteilt werden müssen.“

Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.2013 – X ZR 155/10, BeckRS 2013, 4954 Rn. 12.

Diesen Nachweis kann der Bieter, der nicht zum Verhandlungsverfahren zugelassen wurde und deswegen für die entgangene Chance auf den Zuschlag Schadensersatz begehrt, nicht führen. Damit scheiden auch Ansprüche nach der o.a. Rechtsprechung regelmäßig aus. 

Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat nunmehr entschieden, dass es gegen den effet-utile-Grundsatz verstößt, wenn einem vergaberechtswidrig ausgeschlossenen Bieter der Anspruch auf Schadensersatz verwehrt wird. Schon die Chance auf den Zuschlag stellt eine Vermögensposition dar, für deren Verlust nach Unionsrecht ein Ausgleich verlangt werden kann.

Sachverhalt und Entscheidung

Der Teilnahmeantrag eines slowakischen Bauunternehmens wurde in einem Vergabeverfahren für die Modernisierung von Fußballstadien zu Unrecht ausgeschlossen. Das Unternehmen forderte u. a. Schadensersatz für den Verlust der Chance, den Auftrag zu erhalten. 

Der EuGH begründet das mit dem Wortlaut des Artikel 2 Abs. 1 Buchts. c der RL 89/665, der nicht zwischen Bietern unterscheidet, die einen Auftrag nicht erhalten haben und solchen, die schon keine Chance auf den Zuschlag halten.

Dafür spricht nach dem EuGH auch der Zusammenhang mit der ständigen unionsrechtlichen Rechtsprechung, wonach 

tatsächlich erlittene Schäden bei Verstößen gegen das Unionsrecht angemessen ersetzt werden [müssen], was gegebenenfalls ein Ausgleich in vollem Umfang bedeuten kann.

Aus Art. 1 Abs. 3 der RL 89/656 ergibt sich, dass jede Person, die Interesse an einem Auftrag hatte und der durch einen Vorstoß ein Schaden entstanden ist oder ein Schaden droht, ein Nachprüfungsverfahren einleiten können soll.

Nach Erwägungsgrund 36 der Richtlinie soll im Einklang mit der Grundrechtecharta ein wirksamer Rechtsbehelf gegeben werden. Den Schadensersatzanspruch sieht die Richtlinie als letztes Mittel für denjenigen Bieter vor, dem tatsächlich die Möglichkeit genommen wird, einen anderen Rechtsbehelf der Richtlinie in Anspruch zu nehmen wie im vorliegenden Fall durch den Ausschluss.

Praktische Bedeutung für öffentliche Vergaben in Deutschland

Eine Anpassung der oben wiedergegebenen nationalen Rechtsprechung an die hier vorgestellte Entscheidung erscheint vor dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrecht und der damit verbundenen Pflicht der nationalen Gerichte, nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen, gut denkbar. 

Gerichte werden dann bei der Quantifizierung dieses Schadens, der hinter dem entgangenen Gewinn zurückbleibt, wohl auf die Möglichkeit der Schätzung nach § 287 ZPO abstellen. Als Anknüpfungspunkte für eine Schätzung kommen u. a. in Betracht der bekannte Auftragswert, die Anzahl der Mitbewerber oder alternativ ein Vergleich zwischen üblicher Angebotslegung des Bieters und einem hypothetischen Angebot für den Fall, dass die Chance auf den Zuschlag nicht vereitelt worden wäre (so Schmidt, Vergabeblog.de vom 02/09/2024 Nr. 66594 - vergabeblog.de/2024-09-02/schadensersatz-fuer-den-verlust-der-zuschlagschance-eugh-urt-v-06-06-2024-c%E2%80%91547-22-ingsteel/, zuletzt aufgerufen am 15.01.2025, 19:22 Uhr).

Denkbar erscheint es auch eine Umkehr der Beweislast in der Art und Weise anzunehmen, dass der öffentliche Auftraggeber darlegen und beweisen muss, dass der Bieter keine Chance auf den Zuschlag gehabt hätte. Nach der Entscheidung des EuGH erscheint es außerdem möglich, dass bei unzulässigen de-Facto-Vergaben übergangene Unternehmen Schadensersatz wegen entgangener Chancen geltend machen können 

Zusammengefasst kann sich das Haftungspotenzial von öffentlichen Auftraggebern nach der Entscheidung des EuGH erheblich vergrößern, weil danach nicht mehr nur der Bieter als Schadensersatzberechtigter für das positive Interesse in Frage kommt, der den Zuschlag erhalten hätte müssen. Für öffentliche Auftraggeber erscheint es ratsam, den genutzten Beurteilungsspielraum möglichst genau zu dokumentieren und bei erfolgten Ausschlüssen eine „Schattenwertung“ im Hintergrund vorzunehmen, die auch das ausgeschlossene Unternehmen enthält (Schmidt a. a. O.).

Möglicherweise erkennt auch der Gesetzgeber Handlungsbedarf: Denn die nationale Regelung in § 181 GWB gewährt zwar im ersten Satz ausdrücklich Schadensersatz für die Kosten der Vorbereitung des Angebots oder der Teilnahme an einem Vergabeverfahren und lässt im Zweiten Satz weiterreichende Ansprüche auf Schadensersatz unberührt. Der Ersatz von entgangenem Gewinn ist allerdings nach dieser Vorschrift nicht möglich (Ott, EuZW 2024, 799 (803) m. w. N.). Die reine Chance auf einen Gewinn wird zivilrechtlich auch nicht von §§ 249, 252 BGB abgedeckt.